Auge

Vermutlich ist mein Opa der Grund dafür, dass ich Chinesin bin. Er ist Chemiker und er kann alle Sprachen. Papa sagt, Opa ist einer wie Karl Valentin von der Schallplatte, und darum sagt er Kemie und Kina. Mama kennt die Platte auswendig und sie lacht jedesmal an den gleichen Stellen, so dass die Gläser in den Schränken klirren. Über Opa lacht sie nicht. Sie sagt „Daddy“ wenn sie über ihn spricht, das ist englisch und Opa versteht, was es heißt. Opa hat ein Fußpilzmittel erfunden, eins, das man in der Apotheke kaufen kann. Das hat mit Chemie zu tun, und darum hat es Opa erfunden und kein anderer, weil er ja Chemiker ist, sagt Mama, und Opa hat den Zettel, der in der Schachtel von dem Fußpilzmittel steckt, auf chinesisch geschrieben, weil er ja alle Sprachen kann. Vor allem chinesisch.

Opa trifft sich mit den Chinesen oben auf dem Schloß. Dann nimmt er seinen Stock mit. Den braucht er, um das Laub im Wald auf dem Weg nach oben wegzuschieben, weil er sehn will, wie groß die Buchenkeimlinge geworden sind. Und dann redet er mit den Chinesen über das kaputte Schloß und warum es niemand repariert und über den Fußpilz und die Chinesen lachen, weil sie noch nie einen deutschen Opa mit Stock gesehen haben, der chinesisch spricht. Ich weiß nicht, wozu die Chinesen Fußpilz brauchen und ich frage mich, ob einer mit Pilzen auf den Füßen überhaupt Schuhe anziehen kann.

 

Im Schwimmbad gibt es extra eine Minidusche. Wegen dem Fußpilz, sagt Oma. Aber die Dusche hat irgendein anderer erfunden. Oma geht oft ins Schwimmbad. Und einmal nimmt sie mich mit. Sie hat einen komischen Badeanzug, der die Brüste größer macht und eine Badekappe mit Blümchen dran, die wackeln beim gehen und beinahe hätte ich sie nicht erkannt. Sie wartet nicht auf mich, schwimmt einfach los, hin und her, hin und her, wie Mama. Ich trau mich nicht ins Becken, weil es überall tief ist. Ich warte lieber, bis Oma mit mir rein geht und wir zusammen planschen. Aber plötzlich ist sie schon fertig, kommt raus und zieht sich wieder an. „Hattest du keine Lust zum Schwimen?“, fragt sie mich und besteht darauf, dass ich meine Füße unter die Minidusche halte. Dabei habe ich gar keine Fußpilze. Es pritzelt zwischen den Zehen und riecht wie das Putzmittel von Heikes Mama. Ich hätte schon Lust gehabt zu schwimmen...

Aber wir gehen nach Hause, weil Oma einen Kuchen backen muss, bevor Opa aufwacht. Opa schläft auf dem Sofa in seinem Arbeitszimmer, das nur für ihn alleine ist. „Du darfst ihn nicht stören. Er braucht seinen Mittagsschlaf“, sagt Oma und hinkt den Gang hinunter Richtung Küche, um die Rührmaschine zusammen zu bauen. Opa sieht viel älter aus, wenn er schläft, ohne seine Brille und er bewegt sich nicht. Ich berührte ihn am großen Zeh, weil ich wissen will, ob er noch lebt. Er schlägt die Augen auf und grummelt unfreudlich. Ich eile den langen dunklen Gang entlang, obwohl der so gruselig ist und komisch riecht und ein Fenster hat, hinter dem es nicht nach draußen geht, sondern in den Vorratsschrank. Aber wenn Opa schimpft, ist das noch gruseliger als der Gang mit seinem Geruch und dem falschen Fenster.

Opas Schreibtisch ist so voll mit Büchern und die sind voll mit Zeichen, die ich nicht kenne und die nur er versteht, weil er chinesisch kann. Und das ist was Besonderes, sagt Mama. Heikes Opa hat ein steifes Bein. Das ist auch was Besonderes, sagt Heike. Sie ist meine Freundin. Trotzdem find ich, ein steifes Bein ist nicht das gleiche wie Chinesisch. Wenn er nach seinem Mittagsschlaf wieder an seinem Schreibtisch sitzt, schauen von meinem ganzen Opa nur ein paar grauen Haare hinter den Büchern hervor. Ich glaube er liest die Bücher, wegen Mama und mir. Einer muss sich ja auskennen mit Chinesen. Oma stellt Mehl und Milch und Eier auf den Küchentisch und sagt, acht Jahre war sie mit ihm in China und ich finde, das ist ganz schön lang und hat wahrscheinlich ausgereicht, dass meine Mutter davon eine Chinesin geworden ist. Und ich hab es dann von ihr abbekommen. Aber Mama sagt, sie war gar nicht dabei, in China, weil sie noch nicht auf der Welt gewesen ist. Nur ihre Schwester und der Bruder, die waren dabei. Aber sie sind keine Chinesen geworden. Ich frage Oma, ob Opa seinen Schreibtisch und alle Bücher mit in China dabei hatte und ob das der Grund ist, dass Mama Chinesin ist und ich jetzt auch. Oma schüttet Zucker in die Schüssel der laufenden Rührmaschine, drückt mir den Fettpinsel in die Hand, damit ich die Kuchenform einschmiere und weil sie Küchenmaschine so laut ist, schreit sie: man kann nicht alles wissen.

 

Meine Freundin könnte viel eher eine Chinesin sein als ich. Ihre Augen sind so schmal, dass sie den Kopf heben muss, wenn sie sehen will, ob die Lampe in ihrem Zimmer an ist. Ich habe runde Augen. Ich kann alles sehen, glaube ich. Meine Haut ist blaß im Winter und im Sommer braun wie gut gebackene Brötchen. „Mach mal die Augen auf!“, sag ich zu meiner Freundin, weil ich will, dass sie alles von der Welt sieht, was es zu sehen gibt, nicht nur den mittleren Streifen. Und dann versucht sie es, so doll sie kann. Aber es gehen nur die Augenbrauen hoch und die Augen bleiben einfach so, wie immer. Mir tut das Leid, aber sie findet das ganz normal und es tut ihr auch nicht weh. Sie sagt, sie sieht genauso viel wie ich. Aber das kann sie überhaupt nicht wissen. Und ich auch nicht. Ich beschließe, doch noch mal meine Mutter zu fragen wegen der Sache mit der Chinesin. Sie muss es ja wissen.

 

 

Mama hängt Wäsche auf im Zickzack zwischen Haus und Schuppen und ich frage sie, wie es sein kann, dass ich Chinesin bin, aber sonst keiner und dass auch meine Augen ja gar nicht so aussehen und meine Haut nicht gelb ist wie Curry und warum Opa diese ganzen dicken Bücher liest. Mama schaut mich an und sie sagt nichts. Dann fängt sie an zu grinsen und da weiß ich, es war blöd, dass ich gefragt habe und meine Augen füllen sich mit Tränen, was ich nicht will und ich fühle mich sehr klein. „Du hast doch gesagt, jeder dritte Mensch ist ein Chinese. Ich habe genau nachgezählt.“ Ich rechne es ihr vor: erst haben Oma und Opa Onkel Wernie gekriegt, dann Tante Hildgard und dann Mama. Ist doch so, oder? Also ist Mama die Dritte, also Chinesin. Und bei mir ist es doch genauso. Martin, Eva und dann ich. Eins, zwei, drei. „Ich bin auch die Dritte!“, sage ich und überlege, ob ich die Einzelkinder und Kinder mit einem oder mehr als zwei Geschwistern hätte mitrechnen müssen. Vielleicht liegt da der Fehler! Mama bückt sich tief in den Wäschekorb, schüttelt ein blaues T-Shirt aus und hängt es an die Leine, sie schaut mich an und sagt: „Dann bist du eine Chinesin. Völlig klar.“ Aber ihre Stimme klingt anders als wenn sie „Gute Nach, mein Schatz,“ oder „Räum mal endlich deine Sachen weg!“ sagt. Jetzt pass ich genau auf, was Mama sagt und wie ihre Stimme dabei klingt und dann weiß ich, wann ich aufpassen muss, was sie sagt. Denn manchmal hat Mama einfach nicht Recht.

 

Dreißig Jahre später klopft es abends an das Fenster. Draußen ist es dunkel. Ich sehe niemanden. Es klopft wieder. Da erkenne ich zwei weiße Augen. Sonst nichts. Ein dunkelhäutiger Paketbote hat die Haustür nicht gefunden und uns durchs Fenster beim Abendbrot entdeckt. Ich winke ihm, ums Haus herum zu kommen, weil ich keine Lust habe, die Fensterbank leer zu räumen und gehe zur Tür. Als ich ihm meine magnetische Unterschrift hinterlasse, schlüpft meine strohblonde Tochter Jette zwischen meinen Beinen hindurch und baut sich vor dem Mann auf. Der Paketfahrer ist irritiert. Seine Augen wandern zwischen mir und meiner Tochter hin und her, ohne dass sich sein Kopf bewegt. „Ist das Kind ein Chinese?“, fragt er und händigt mir das Paket aus. „Nein, Ich bin die einzige Kinesin hier“, antworte ich und wünsche ihm einen angenehmen Feierabend.

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