„Wo darf ich sitzen?“, frage ich Florence mit meinem stockenden Französisch, stehe verlegen im Flur herum. Klappernde Teller, dampfende Schüsseln und Töpfe mit duftendem Inhalt schweben an mir vorbei Richtung Esstisch. Helfen strengstens untersagt, denn ich bin der Gast hier, flöten die beiden eifrigen Damen des Hauses. In dem Augenblick weiß ich noch nicht, dass es für mich die Hölle sein wird, in diesem südfranzösischen Reihenhaus den Status eines Gastes inne zu haben, in einem Haus, das so gar nichts von dem hat, was mich an Südfrankreich denken lässt, an warme Abende, Rotwein und den Duft von Lavendel und Pinien. Ich befinde mich mitten in dieser amerikanisch anmutenden Siedlung, in einem Haus, das sich unter seinesgleichen für individuell hält, Gitter vor den Fenstern, von Rasen eingerahmte Fußwege, die keiner benutzt. Ich bin hier, um fürs Leben zu lernen, erinnere ich mich, genauer gesagt, fürs Abitur, ganz genau gesagt für meinen Französischlehrer, damit dieser sich nicht aus Verzweiflung aus dem Fenster stürzt, wenn er miterleben muss, wie ich mich durch die mündliche Französischprüfung mogle. Sie haben es verdient, dass ich mein Beste gebe, cher Monsieur Hack.
Bereits beim ersten Hausrundgang in meiner Gastfamilie beschleichen mich erste Zweifel, ob ich hier richtig bin. Ich atme so flach es geht, um das Haus nicht unnötig zu erschüttern. Als meine neuzehnjährige Gastgeberin mir einen Blick in ihr Zimmer gestattet, es bleibt zu unserer beider Glück der einzige Blick während meines Aufenthaltes in dieses Gemach, sehe ich etwas, das ich nicht zuordnen kann. Ein Zimmer, wie aus einem Kindermöbelkatalog! Rosa Teppich. Rosa Wand. Rosa Bettüberwurf und eine Streitmacht farbenprächtiger Kuscheltiere, die uns vom Bett aus blöde entgegengrinst. Da Florence keine Geschwister hat, folgere ich, dass es sich hierbei um ihr Zimmer handeln muss. Schlagartig sehe ich das Zeltlager meiner Freunde zwischen den Pinien am Atlantik vor mir, das ich für diese Erfahrung verlassen habe, denke an das vielstimmige Lachen, spüre den nadelbesteckten sandigen Untergrund unter meinen Füßen, schmecke den beißenden Pernot in meiner Kehle und fühle mich so elend, wie nie. Ich ringe um Atemluft und rede mir ein, ein paar Plüschtiere verderben noch keinen Sommer.
Aber dann weist man mir meinen Platz am Esstisch zu und ich weiß, dass hier nichts jemals besser werden wird, mit oder ohne Plüscharmee. Erst bin ich angenehm überrascht, dass ich den Stuhl mit Blick nach draußen bekomme, am Tischkopf, da wo man den Chef des Hauses thronen lassen würde, der Ehrenplatz und ich schöpfe Hoffnung. Doch kaum setzen sich die drei Familienmitglieder zu mir an die Tafel, lässt mich die ungewöhnliche Sitzplatzkombination ein zweites Mal an diesem Tag Zweifel hegen. Während ich den Blick auf den aufblasbaren Pool auf dem blumenlosen Rasen genießen kann, setzt sich Papa Florence im weißen Rippunterhemd, seinen stolzen Bauch betonend, an das anderen Tischende. Freundlich strahlt er mich an und zieht geräuschvoll die Nase hoch.
Florence und Mama Florence nehmen nicht, wie ich erwartet hatte, an den beiden verbleibenden Längsseiten des Tisches Platz, sondern sitzen nebeneinander, mit dem Rücken zur Wand, wie Teeniefreundinnen, die unendlich viel zu bereden haben. Eine Längsseite des Tisches bleibt frei. Ich bin irritiert. Erwarten wir noch jemanden? Aber dann bräuchten wir mehr als vier Teller! Habe ich mich doch auf den falschen Platz gesetzt?
Doch dann lüftet sich das Geheimnis der Sitzordnung. Pünktlich zur Vorspeise drückt Florence ihre Zigarette im Aschenbecher neben meinem Teller aus und den Fernseher an. Dieser übernimmt fortan das Unterhaltungsprogramm für den Rest des südfranzösischen Tages, der vor dem Fenster ungenutzt vorbeizieht. Zu erwähnen bleibt, dass unverrückbares Möbelstück die Sicht von meinem Patz aus auf den redefreudigen Alleinunterhalter versperrt. Ich kann mich also ganz in Ruhe den duftenden Speisen und mir selbst zuwenden. Es gibt einen großen Berg gegrilltes Fleisch und eine kleine Schüssel mageren Salat. Vive la france!
Drei Tage später kann ich die Werbung für extraleichte Kartoffelchips, für das Rundum-Sorglos-Versicherungs-Paket und für einen Nagelhärter der Frauenhände jetzt noch schöner macht, akzentfrei aufsagen, und die Titelmelodien aller existierenden Serien besetzen jede meiner freien Gehirnzellen. Ich darf immer noch nicht in der Küche helfen, soll nicht mit zum Einkauf fahren, weil die Klimaanlage im Auto defekt ist, und bis auf einen zwanzigminütigen Besuch des öffentlichen Schwimmbades, ist Florence nicht gewillt, etwas mit mir zu unternehmen. Entweder schämt sie sich für mich oder für ihre Freunde, was im Endeffekt auf das gleich heraus kommt. Ich habe Heimweh, schlimmer als ein Pinguin im tropischen Regenwald und wünsche mir nichts sehnlicher, als dieses Haus so schnell wie möglich zu verlassen. Für immer. Daher treffe ich eine Entscheidung.
Eine Nacht lang liege ich wach, starre die Blumen der Gästezimmertapete an und blättere im Geist jedes Französischbuch durch, das ich je in Händen gehalten habe. Ich suche darin nach den passenden Vokabeln, jongliere mit allen mir bekannten Präpositionen, dekliniere und konjugiere, bis ich endlich den Satz zusammen habe. Dann schleiche ich mich barfuß an Florence Plüschkaserne vorbei, treffe auf Papa Florence, der vor dem Fernseher bei Maschinengewehrknattern eingeschlafen ist, setze mich zu ihm und rezitiere, was ich mir zurecht gelegt habe. Papa Florence schlägt die Augen auf. Er hat mich verstanden. Nicht sonderlich beeindruck nickt er und besteht darauf, dass ich meine Eltern anrufe. Meine Mutter ist nicht einverstanden, dass ich den Aufenthalt abbreche, schon gar nicht zu der Uhrzeit und schon gar nicht vor dem Hintergrund, dass meine Freunde unweit ihren Urlaub auf dem Campingplatz am Meer verbringen. Sie vermutet einen gewissen Zusammenhang und redet auf mich ein, es noch ein paar Tage zu versuchen. „Mama, hier läuft den ganzen Tag der Fernseher!“, flüstere ich in die Hörmuschel, damit Papa Florence es nicht hört. Mehr muss ich nicht sagen. Ich darf tun, was ich für richtig halte. Noch in der gleichen Stunde packe ich meine Tasche und Papa Florence fährt mich am nächsten Morgen noch vor dem Frühstück zurück zum Campingplatz. Lachend, Pernod trinkend, den nadelbesteckten sandigen Untergrund unter den ledrigen Fußsohlen, verlebe ich den Rest des Sommers an der Atlantikküste bei meinen Freunden, da wo es keine Plüschtiere gibt.
Ein paar Monate später ist es soweit. Mit weichen Knien betrete ich den Klassenraum, der mir sonst so vertraut ist und mir ist hundeelend. Monsieur Hack und zwei Prüfer warten schon auf mich. „Ou est-ce que je peux m´asseoir?“, frage ich. Monsieur Hack blickt mich verschmitzt durch seine randlose Brille an und deutet auf den einzigen freien Stuhl. Wir bringen das Ding hier über die Bühne, soviel ist klar zwischen uns, notfalls mit Hilfe französischer Werbesprüche. Also los.
„Chips légère sont si légère qu´on exagère.“