Fünfzig Euro

Es gibt so viele Geschichten, die mit Geld zu tun haben, dass es unmöglich ist, sie alle zu erzählen, aber diese Geschichte hier, hat sich tatsächlich nicht ereignet, was für mich Grund genug ist, sie endlich einmal aufzuschreiben.

Es war an irgendeinem Tag im Juni irgendeines Jahres, als ich keinen Fünfzigeuroschein gefunden und zum Fundbüro gebracht hatte. „Fünfzig Euro! So viel Geld“, sagen die einen, „Peanuts“, sagen die anderen. Der orange-braune Schein, beidseitig mit Renaissance-Motiven bedruckt, lag auf der Treppe zu Bahnsteig B, unordentlich gefaltet und flach gedrückt, als sei er jemandem beim Herausziehen der Hand aus der Hosentasche herunter gefallen. Der Schein glänzte speckig vom Fett und Dreck der viele Hände, die ihn eingenommen und wieder ausgegeben hatten. Er war kein Schein, der es lange in einer Geldbörse aushielt. Er war einer dieser unsteten Scheine, die stets den Besitzer wechseln.

 

Er lag nur wenigen Meter entfernt von der Stelle, wo seit letzten Herbst der Obdachlose mit dem Lederhut wohnte, der Mann, der aussah, als mache er bei seinem Ritt durch die Prärie eine kurze Verschnaufpause, hier auf dem Treppenabsatz, auf der halben Höhe hinauf zu Bahnsteig B. Jeden Morgen grüßte er die Pendler, die eilig mit ihren klappernden schwarzen Lederschuhen sein Schlafzimmer durchquerten und manche von ihnen steckten ihm zwischen S-Bahn und Büro ein paar Münzen oder einen Apfel zu. Einem wünschte er einen guten Morgen, erkundigte sich nach dessen Wohlergehen, einem anderen gab er einen gesegneten Tag mit auf den Arbeitsweg. Aber der Obdachlose grüßte auch weiter, wenn zwischen den Zügen der Passantenstrom abriß. Sein Kopf war voll von Menschen, mit denen er sprechen konnte.

Jeden Morgen, bevor die Masse der Büroangestellten aus den Regionalzügen und S-Bahnen in die Innenstadt quoll, schüttelte der Mann mit dem Lederhut seinen Schlafsack aus, bettete ihn ordentlich auf der Schaumstoffmatratze, die er auf dem Sperrmüll in der Bachstraße gefunden hatte und die ihn gegen die Kälte des gefliesten Bahnhofbodens schützte. Er deckte alles mit einer Plastikplane ab, damit die Tauben, mit denen er seine Unterkunft teilte, nicht auf sein Eigentum schissen. Dann putzte er sich die Zähne, weil er keine Löcher in den Zähnen kriegen wollte und der Steifheit der Gelenke begegnete er mit ein paar Kniebeugen. Schien die Sonne, so er bezog seinen Posten vor dem Eingang des ehemals gelb gestrichenen Bahnhofgebäudes, das jetzt sein Zuhause war und sprach von dem Leben, das hinter ihm lag. Regnete oder stürmte es, stellte er sich in den Eingangsbereich, blickte durch den Spritzwassernebel der vorbeifahrenden Autos, und sprach von dem Leben, das vor ihm lag. Es gab nur einen einfachen Grund, warum er hier war, nämlich den, weil er nicht woanders war.

 

Aber an jenem Tag, als ich nicht diesen abgegriffenen Fünfzigeuroschein auf dem Treppenabsatz zu Bahnsteig B fand, sozusagen im Vorgarten des Obdachlosen, war niemand da, der die Passanten begrüßte. Das war ungewöhnlich. Die Lagerstatt war ordentlich gemacht und auf der Plane lag die aktuelle Tageszeitung, die ihm ein großzügiger Leser fast täglich überließ. Der Großstadtcowboy fehlte. Ich fragte mich, ob die Mitarbeiter der Bahngesellschaft wieder da gewesen waren, ihn darüber aufgeklärt hatten, dass er sich einen anderen Lebensraum suchen musste. Sie kamen an jedem ersten Arbeitstag im Monat. Mit fünf Mann umkreisten sie ihn, die Hände einsatzbereit an den Halftern ihrer Waffen, aufmerksam wie wacheschiebende Erdmännchen, die den Duft eines herannahenden Raubtiers wittern, beobachteten jede seiner Bewegungen, fragten ihn wieder nach seinem Namen, den sie sich längst hätten merken können, prüften seine Papiere und schauten ihm dabei zu, wie er seine Matratze einrollte, mit einem Gürtel fest zusammen zurrte und sich mit den voll gestopften Tüten und Decken davon schleppte. Sie wussten, dass er in drei Tagen wieder da sein würde. Er wusste, dass sie am ersten Arbeitstag des Monats wieder kämen. Aber sie hatten getan, was sie tun mussten.

 

Ich bückte mich und hob keine Fünfzigeuroschein auf. Ich war mir sicher, dass der Schein, den ich nicht gefunden hatte, auf keinen Fall dem Obdachlosen gehören konnte. Er war der einzige hier, der mit Sicherheit keinen Fünfzigeuroschein verloren haben konnte, denn so viel brachte ihm sein Leben im Bahnhof in einem ganzen Monat nicht ein.

Ich riß ein Blatt aus meinem Taschenkalender, kritzelte darauf „Ich habe keine Fünfzigeuroschein hier auf der Treppe zu Bahnsteig B gefunden und vermute, dass er nicht Ihnen gehört!  Falls dem so ist, können Sie ihn nicht im Fundbüro der Stadt abholen, wo ich ihn nicht abgegeben habe. Sollte er ihnen nicht nicht gehören, holen Sie ihn doch einfach trotzdem ab. Sie können ihn sicherlich gebrauchen. Eine Passantin.“  

 

 

Nur zwei Stunden später kam ein Mann mit Lederhut ins Fundbüro der Stadt und stellte sich mit Oskar Wuttke vor. Oskar, weil das sein Name war, und Wuttke, weil er sich den Nachnamen, der in seinem Ausweis stand, nicht merken konnte. Wuttke hingegen konnte er sich merken, denn so hatte seine Grundschullehrerin geheißen. Frau Fundbüro atmete durch den Mund, um gegen den Ekel anzukommen, der in ihr aufstieg. Der beißende Körpergeruch des Mannes brannte in ihrer Nase , irgendwas zwischen Schweiß, Moder und süßem Damenparfüm, der Geruch eines Mannes, der sich lange nicht gewaschen und seit Wochen die Kleidung nicht gewechselt hatte.

„Da haben Sie Glück!“, sagte die Frau, bemüht, den Mann auf Abstand zu halten und trotzdem zu lächeln. „Es kommt nicht oft vor, dass Menschen hier Geld abgeben. Wirklich Glück gehabt!“ Dann eilte die Frau mit kleinen Schritten voraus, Oskar folgte ihr hinkend. Sein linker Fuß war seit Januar geschwollen und brannte bei jedem Schritt. Darum hatte er heute seinen morgendlichen Begrüßungsposten verlassen und den ärztlichen Dienst der Obdachlosenhilfe aufgesucht. Jetzt steckte sein Fuß in einem fremden Schuh, der genug Platz für ihn und seinen dicken Verband bot. Frau Fundbüro verschwand hinter der Tür mit dem Schild „Fundsachen B“, holte die Kiste mit dem Kleinkram vom oberen Regalbrett, griff hinein und holte keinen unregelmäßig gefalteten und flach gedrückten Fünfzigeuroschein heraus.

 

 

„Das ist also nicht Ihrer?“, sagt sie und streckte ihm die leere Hand entgegen, Daumen und Zeigefinger aufeinander gedrückt. Oskar Wuttke nickte, nahm keinen Geldschein entgegen, bedankte sich und verließ pfeifend das Fundbüro.

 

Fünfzig Euro! So viel Geld! Was für ein Glückstag, dachte er sich. Heute würde er sich in die Sonne vor dem Bahnhof stellen und mit den Passanten plaudern. Alles andere konnte warten. lles anderen konnte warten.