Gute Idee

Die Zeit verging schneller, als mir recht war. Die Autobahn Richtung Norden war frei und meine Mitfahrerinnen, angetrieben von den Erlebnissen und Eindrücken des Wochenendes, füllten den Innenraum des Wagens mit Geplapper, wie die Pumpe das Aquarium mit Luftbläschen. Ich wollte noch nicht nach Hause. Ich hatte noch nicht alles erledigt.

 

Drei Tage hatten wir gesungen, fast ununterbrochen mit Frauen aus allen Teilen Deutschlands, aus den USA, aus Holland und Schweden, als könnten wir damit die Welt aus ihren Angeln heben. Und jetzt waren wir überzeugt: es gibt auf der Welt nichts Besseres, Wichtigeres und Schöneres, als gemeinsam Barbershop zu trällern und die Luft mit Obertönen zum Schwirren zu bringen. Jetzt würden wir unser Quartett aufpimpen, neue Stücke probieren, mutigere Interpretationen wagen und auftreten, auftreten, auftreten. Und ein Name musste her! Dies sollte nun wirklich der letzte Workshop gewesen sein, bei dem wir uns als das Quartett vorstellten, das noch immer nach dem richtigen Namen sucht.

 

Trotz des schillernden Wochenendes hatten sich die guten Gefühle in mir verklemmt, ich war sauer, war enttäuscht, frustriert. Ich hatte mir gewünscht, alles Grau, das seit einigen Monaten über unserem Ensemble hing, wie die Plane eines vom Dauerregen eingestürzten Pavillons, verwandele sich an diesem Wochenende in Glitzer und Gold, das von oben auf uns herunterrieselt, wie Konfetti nach der richtigen Antwort der Eine-Million-Euro-Frage. So hätte dieser Ausflug enden sollen! Aber stattdessen hatte unser Ensemble mal wieder unter Unpässlichkeiten gelitten, wie eine streunende Katze unter Flöhen, darum konnten wir mal wieder nicht singen, nicht zu viert, nicht vor den anderen. Das reichte mir jetzt!

 

Ich setzte bei der nächsten Gelegenheit den Blinker und rollte auf den Parkplatz einer Raststätte, parkte den Wagen in eine freie Lücke zwischen den Lastwagen. „Alle aussteigen!“

 

Kurz darauf klimpern vier mal 70 Cent in den Automat zu den öffentlichen Waschräumen. Vier Schlösser drehen sich in vier Toilettentüren, schieben die roten Felder in die Sichtfensterchen und zeigen „Besetzt“. Flieder-Duftspray lastet über dem Geruch von Pipi und scharfem Putzmittel. In der letzten Toilettenkabine links ertönt Kammerton A aus einer Stimmpfeife. Vier Frauenstimmen hinter vier Toilettentüren übernehmen den Ton, fächern ihn auf zu einem Dur-Akkord. Stille. Luft strömt in vier Lungen. Dann: „A one- schnipp- a two-schnipp- a one-two-three-four... Dudududuuuduuu du dudududuuuu... This is the way that I feel today, I wanna jump up and shout Hurray“.

 

Aber dann das: die Pappwände verschlucken die Phrasen wie geschmacklosen Kaugummi, weil sie mit dieser Art von Beschallung nicht einverstanden sind, sind daran gewöhnt, unerwünschte Geräusche bei sich zu behalten, nicht heraus zu tönen. Der Song galoppiert los, ich hetze hinterher, ringe um jeden Atemzug, erbreche jede einzelne Silbe. Musik will sich nicht einstellen. Chaotisch purzeln die Klänge übereinander. Doch plötzlich spitzen die Wände ihre Ohren, recken sich dem bemühten Song entgegen, straffen sich, bäumen sich trotzig auf und pritschen mir die ersten Töne zurück wie Volleybälle. Der Puls in meinen Adern macht sich bemerkbar, gibt den Rhythmus an. Mein Kiefer macht Platz für die nächste Silbe, für den nächsten Ton, für die ganze Phrase. Ein Ton nach dem anderen Ton quillt aus meiner Kehle in den Mundraum, formt sich dort zu einem dichten Gebilde. Mein Schädel vibriert wie ein Bienenstock und versetzt die Luft um mich herum in Bewegung. Der Klang irrt zwischen den Wänden der engen Kabine umher, sucht einen Ausweg, wirbelt in einem Strudel aufwärts und erhebt sich über die Sperrwand. Nicht mehr ich singe, es ist der Raum der jetzt tönt.

 

Der Bass flutet unter der Toilettenwand hindurch, Bari und Tenor strömen durch Türschlitze und fließen zusammen, wie alte Freunde, die sich nach langer Trennung in die Arme fallen. Die vier Stimmen rufen einander, locken, streben aufeinander zu, verschmelzen, diffundieren, werden zu einem Klanggebilde mitten auf der Damentoilette einer mitteldeutschen Autobahnraststätte. Die klosteinduftende Luft surrt, wie kurz vor dem Einschlag eines Gewitterblitzes, die Härchen auf meinen Armen richten sich auf. Der Raum zwischen den Toiletten ist zu einem lebendigen Instrument geworfen. Ein loser Türknauf klirrt mit. Der beißende Geruch von Flieder-Pipi verduftet. Das Deckenlicht zuckt. Musik entfaltet sich. Die Tonhöhe steigt an, fällt zurück, nimmt Anlauf und schwingt sich erneut hoch hinauf, überwindet Tonartwechsel, verharrt an einer Fermate, Crescendo, die Akkorde verdichten sich bis zur Unerträglichkeit, reiben aneinander, wie die Beine einer Cordhose. Die Musik weiß, wo sie hin will, treibt vorwärts, schwämmt Kreuze, Auflösungszeichen Taktstriche mit sich, weiter, immer weiter Richtung Horizont. Wir folgen ihr und ergeben uns gemeinsam in den Schlussakkord, lösen alle Versprechen ein, lösen auf in eine Skalav von Obertönen, verhallen... Die Musik entweicht in das Toilettenpapier, in die Ritzen des Handtrockners, in den Abfluss des Waschbeckens, sie zieht wie Nebelschwaden die Treppen hinauf in die Raststätte, wo ein Lastwagenfahrer Langeweile und Einkünfte am Geldspielautomaten verdaddelt. Die Wände staunen noch, bis der Raum seine gewohnten Geräusche zurück hat. Eine Wasserspülung rauscht, ein Reißverschluss surrt, das Rascheln von Stoff. Vier Riegel drehen sich im Schloss, vier Kabinentüren öffnen sich, fallen zu, viermal rastet das Drehkreuz ein und entlässt uns nach draußen.

 

Der Barbershop-Raststätten-Toiletten-Flashmob war geboren.

 

Jetzt konnte ich nach Hause fahren.