Schwören

„Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst und übe, dem Knaben gleich, der Disteln köpft an Eichen dich und Bergeshöhn...“ Der Anfang sitzt perfekt. Aber immer wieder bleibe ich an der gleichen Stelle hängen. Ich verheddere mich hoffnungslos in eine Endlosschleife goethischer Worte, während ich Blumentöpfe rücke. Von einem Topf-an-Topf-Verbund müssen die Plastiktöpfe auf einen 10er Abstand auseinandergezogen werden. Gehirnaktivität hierfür nicht erforderlich. Standby. Die Handgriffe laufen automatisch. Jeden Moment schaltet sich das Gehirn ab. Wenn ich nicht zu einer verblödeten Maschine mutieren will, muss ich auf gespeicherte Daten zurückgreift, denn neuer Input ist nicht zu erwarten: auf Gedichte und aus der Schulzeit, Unwetterszenarien längst vergangenen Urlaube und den Geruch von verbrannten Weihnachtsplätzchen, begleitet von mütterlichem Wutausbrüchen. Während meine Hände gehorsam die Töpfe verschieben, purzeln die Bilder meiner Erinnerungen durcheinander wie junge Kaninchen beim ersten Ausflug auf den Acker.

Als Herbert eines Morgens zu mir sagte: "Du rückst die Weihnachtssterne", dachte ich: „Nimm dich in Acht. Das ist eine Falle!“ Ich glaubte, es handele sich bei dieser Tätigkeit um einen dieser billigen Scherze, mit denen man Lehrlinge hinters Licht führt. "Weihnachtssterne rücken, so ein Blödsinn!" Claudi war unlängst losgeschickt worden, um die Gewichte für die Wasserwaage zu holen und Stefan sucht noch immer nach dem hölzernen Augenmaß. Aber nicht mit mir! „Das kannst du schön selbst machen!“, sagte ich und klopfte Herbert kumpelhaft auf die Schulter und machte mich bereit, mit der Schubkarre aufs Außengelände zu gehen. Aber denkste!

Jetzt stehe ich den dritten Tag im Gewächshaus und rücke Blumentöpfe. Tatsächlich ist das nicht nur Teil meiner Ausbildung, es ist sogar prüfungsrelevant. Ich bin inzwischen am Ende meiner Kräfte. Meine Knie pochen und das Gewölbe meiner Fußsohlen ist längst unter mir zusammen gebrochen. Ich zähle die Töpfe bis zum Ende des Tisches und die Minuten bis zur nächsten Pause, zähle Blätter, Schritte im Gewächshaus nebenan und das Knacken der automatischen Lüftung beim Auffahren der Giebelfenster. Hauptsache die Denkmaschine bleibt an. Im Radio ständig die gleichen Songs.

Gewächshaus um Gewächshaus, Tisch um Tisch, Reihe um Reihe, Topf um Topf müssen die dreitausendfünfhundertsiebzig Weihnachtssterne um wenige Zentimeter verschoben werden, um den Jungpflanzen den optimalen Platz und das perfekte Kleinklima für ihr Wachstum zu verschaffen. In Großbetrieben wird das längst von Robotern erledigt. Hier herrscht Handarbeit. Weil wir nicht irgendein wirtschaftlich ausgerichtete Betrieb sind, sondern eine Lehr- und Versuchsanstalt der Landwirtschaftskammer Rheinland, geht es nicht nur um die optimale Versorgung der Pflanzen, sondern auch um die lückenlose Beschäftigung der Angestellten und um Ansehen und damit um Aussehen. Einmal in der Stunde kontrolliert der Meister, ob die Topfreihe parallel zur Längsseite der Pflanztische verläuft und ob die Diagonalen, die sich durch den versetzten Verbund ergeben, von allen Blickwinkeln die richtige Geometrie ergeben, denn jeden Moment kann der Professor mit seinen Studenten durch das Gewächshaus laufen, oder jemand von der Presse oder ein Landtagsabgeordneter.

 

Töpfe-Rücken war nicht die einzige Überraschung, die ich in meiner Lehrer zur Zierpflanzengärtnerin erfuhr. Ich lernte das Verhalten des Arbeiters in seiner Welt, wo es keine Diplomarbeiten und Doktortitel gibt. Ich lernte, dass man morgens jedermann grüßt, ob man sich kennt oder nicht, mag oder nicht, noch verschlafen ist oder schlechte Laune hat, ganz egal. Okay, sowas in der Art hatte ich vorher schon mal gehört. Was neu für mich war und ähnlich absurd, wie das Töpfe-Rücken, war die Sitte, sich zur Mittagszeit erneut zu grüßen, selbst wenn man gerade den ganzen Vormittag miteinander beim Pikieren von Stiefmütterchen geplaudert hatte. Punkt zwölf legt man das Arbeitswerkzeug zur Seite, hebt den Blick, sieht sich flüchtig an und murrt möglichst übellaunig „Mahlzeit!“. Dann begibt man sich in die Kantine, grüßt auf dem Weg dorthin abermals Kollegen und Mitarbeiter des Büros, die allerdings nur widerwillig.

 

Wir Arbeiter mit unseren dreckigen Schuhe und den schwarzen Fingernägeln, aßen in dem Teil der Kantine, in dem es keinen Blumenschmuck auf den Tischen gab, nicht da, wo die Verwaltungsangestellten saßen. Seit einiger Zeit allerdings herrschte fahrige Unruhe in der Kantine, denn die neuen Lehrlinge, zu denen ich auch gehörte, allesamt mit Abitur in der Tasche und daher nur für zwei Jahre im Betrieb, da sie das Dreisatzrechnen bereits beherrschten und somit auf das dritte Lehrjahr verzichten konnten, hatten was für den Raum mit dem Blumenschmuck übrig. Und das sah man in dem Raum ohne Blumenschmuck gar nicht gerne. „Die Studierten halten sich für was Besseres.“, hieß es. Auch nach der Mittagspause grüßt man für eine weitere Stunde jeden mit „Mahlzeit“, den man seit zwölf Uhr nicht gesehen hat. Dann wechselt man lückenlos zu „Guten Tag“ und alsbald zu „Feierabend“. Es war wichtig, sich genauestens daran zu halten, wollte man nicht als Abituridiot bezeichnet werden.

 

Mitten in meiner Prometheus-Endlosschleife, schiebt Stefan die  Gewächshaustür auf und brüllt mir zu, dass ich ins Büro des  Personalleiters kommen soll. „Oh, oh“ und „Oh là là“, rufen die Kollegen, als ich die Arbeitshalle durchquere, denn es kommt nur selten vor, dass einer mit dreckigen Händen und klumpigen Schuhen in die Verwaltung bestellt wird.

 

Der Personalleiter gibt mir die Hand, schließt hinter mir die Bürotür und bietet mir einen Stuhl gegenüber seines Schreibtisches an. Feierlich teilt er mir mit, dass ich, da ich ja im öffentlichen Dienst beschäftigt sei und meine Probezeit überstanden habe, ein paar Besonderheiten zu beachten und diese mit einem Gelöbnis zu bestätigen habe. Mich überkommt wieder dieses Gefühl, mich in Acht nehmen zu müssen. Aber dieses Mal gehe ich das Risko ein, den anderen endlich ihren Spaß zu lassen. Sie geben ja doch nicht auf, bis sie mich einmal richtig reingelegt haben. Der Mann schaut mich über den Rand seiner Brille an und flüstert mir zu, ich müsse ihm normalerweise jeden Satz der Vereinbarung nachsprechen, bevor ich das Gelöbnis mit meiner Unterschrift besiegel. Davon hält er aber nicht viel, daher reiche es ihm, wenn ich zuhöre, was er mir vorliest und dann unterschreibe. Aber von diesem verkürzten Verfahren dürfe niemand erfahren, weil es nicht ordnungsgemäß sei. Ich schaue mich um, ob Herbert und die anderen hinter den Schränken stehen und kichern. Aber wir sind alleine im Büro. Der Typ scheint es ernst zu meinen. Das Wort Gelöbnis verstopft meine Gehörgänge und ich befürchte,  im nächsten Moment als Nahkämpferin einer Bodentruppe in den Golfkrieg geschickt zu werden. Wo war ich hier nur hineingeraten? Und dann fängt der Mann an zu lesen. Er liest, ich habe die Gesetze der Bundesrepublikdeutschland zu befolgen. Muss ich das nicht ohnehin? Er liest, ich dürfe keine Staatsgeheimnisse verraten. Ich bin gespannt, wann man mich endlich in diese einweihen wird. Und er liest, ich dürfe keine Gefangenen befreien. Gefangene?

 

Ich bin froh, dass ich mit dem Mann keine Blutsbrüderschaft schließen muss. Noch völlig benommen von so viel Verantwortung als Zierpflanzengärtnerin der Bundesrepublik Deutschland, unterschreibe ich mit schweißnassen Händen und zitterndem Stift. Dann kehre ich zurück zu meiner Armee von Weihnachtssternen „Keine Gefangenen befreien. Keine Gefangenen befreien. Keine Gefangenen befreien.“, hämmert es in meinem Schädel.

Ich wittere in jedem Spind einen inhaftierten Mörder, den ich nicht befreien darf, hinter jedem Komposthaufen einen Steuerhinterzieher und hinter jedem Blumentopf einen Verräter von Staatsgeheimnissen.  Nach dem Rücken bleibt ein Weihnachtsstern übrig. Es ist nicht aufgegangen. Irgendwo hab ich mich verzählt. Ich stecke die Jungpflanze unter den Pulli und beschließe, ihr die Freiheit zu schenken und irgendwo da draußen in die Wildnis zu pflanzen.

Und als ich Herbert „Feierabend“ wünsche, da ist es auf einmal da, das Ende: „Zu leiden, weinen, genießen und zu freuen sich und dein nicht zu achten. Wie ich!“