Mütterlicher Wutanfall

Frau Reineke hatte gern alles unter Kontrolle. Sie mochte es, wenn Mädchen fleißig waren und gekämmte Haare hatten. Sie mochte es, wenn die Tische und Stühle ordentlich in einer Reihe standen und sie mochte es, wenn Jungs sich bei schwierigen Rechenaufgaben meldeten. Doch egal wie eifrig diese mit den Fingern schnipsten, Frau Reineke rief immer nur Mädchen auf. Auch mich. Bis eines Tages alles außer Kontrolle geriet.

In den Ferien zwischen der siebten und der achten Klasse hatte ich keinen einzigen Tag an die Schule gedacht, nicht an Vokabeln, nicht an Tangenten oder Erdplattenverschiebungen und nicht an Frau Reineke. Ich war viel zu beschäftigt, beschäftigt damit, zu einem Teenie zu mutieren. Ich hatte einem richtig coolen Jungen eine richtig coole Jeans abgeschwätzt und um die würde ich jetzt richtig beneidet. Die Jeans war nicht bloß eine blaue Hose, sie war ein Kunstwerk, von oben bis unten mit Filzstift bemalt und mit Kuli beschriftet. Und sie roch nach Schweiß und Dreck, nach Tabak und Freiheit. Wenn ich neuerdings an meinen Jeans-Beinen hinunter blickte, beschleunigte der Sauerstoff in meinen Blutbahnen auf die dreifache Geschwindigkeit. Ich war benebelt vor Glück, dass ich diese Hose hatte, getragen, zerschlissen, bemalt und knalleng. Ich besorgte mir im nächsten Asialaden eine Packung Henna. So eine Hose brauchte einen Kopf, der zu ihr passte. Aus asphaltbraun wurde hippierot, mein Haare und das Badezimmer. So ging ich in die Schule zurück.

Am ersten Schultag verfolgte Frau Reineke mich mit ihrem undurchdringlichen Blick vom Eintreten in den Klassenraum bis zu meinem Sitzplatz, ihr Gesicht ließ keinerlei Gefühlsregung oder Gedankenaktivität erkennen, dann bat sie mich zu sich an das Lehrerpult. Womit ich mir das Haar gefärbt hatte, wollte sie wissen, nachdem sie mir einen guten Start ins neue Schuljahr gewünscht hatte. Sie sprach in einem Tonfall, der mich glauben ließ, sie interessiere sich dafür, ob es sich um ein Naturprodukt oder möglicherweise um ein chemisches und damit gesundheitsschädliches Mittel handelt.

 

„Es wird aus getrockneten Blättern gewonnen.“, erklärte ich mit fester Stimme, um meiner Entscheidung, Henna statt Chemie zu verwenden, politischen Nachdruck zu verleihen und erwähnte, dass die Frauen in Indien Henna seit Jahrhunderten verwenden. Frau Reineke hielt den Atem an, spannte ihre ohnehin schon kerzengerade Wirbelsäule, sog Luft mit zwei kurzen Zügen durch die Nase, als schniefe sie Schnupftabak, und beförderte ihre Brille unter Anwendung ihrer Gesichtsmuskulatur den Nasenrücken hinauf, bis ihre Augäpfel beinahe gegen die Scheiben stießen.

 

„Kann man das wieder rauswaschen?“, fragte sie, wobei sie kaum die Zahnreihen voneinander löste, so dass die Worte sich durch ihre Zahnzwischenräume pressen mussten, um mich zu erreichen. Ihre Kiefernmuskeln trommelten von innen gegen die Wangenwände.

 

„Nein, das wächst raus!“, antwortete ich, noch immer nicht ahnend, welche Pein mein neuer Aufzug Frau Reineke bereitet haben musste. Aus dem Kragen ihrer Bluse stieg das Rot ihren Hals hinauf, als würde ihr Leib mit Farbe befüllt. Das Blut erreichte Kinn und Wangen und schoss ihr schließlich von innen bis in die Nasenspitze. Bei Frau Reineke ragte die Nase weiter aus dem Gesicht heraus, als bei anderen Menschen und  wies in der Mitte eine Kerbe auf, wie man es für gewöhnlich von rückwärtigen Körperteilen kennt. Ihre Augen blickten mittig durch die tellergroßen Brillengläser und verengten sich zu schmalen Schlitzen. Sie hatte Ihre Hände zu Fäusten geballt und hielt sie an durchgedrückten Armen dicht am Rocksaum. Die Fingerknöchel waren blutleer. Frau Reineke vibrierte. Beherrscht teilte sie mir mit, sie dulde es nicht, dass ich mir solche Freiheiten heraus nähme, nicht in meinem Alter, und drohte, meine Mutter anzurufen. Ich verstand ihre plötzliche Gemütswandlung nicht und setzte mich schulterzuckend an meinen Platz. Soll sie doch, dachte ich, meine Mutter weiß ja, dass ich die Haare rot habe, dafür muss Frau Reineke sie nicht extra anrufen.

 

Am Nachmittag klingelte das Telefon. Ich drückte mich auf der Galerie rum, während meine Mutter am Fuße der Treppe Frau Reinekes telefonischen Wortschwall ertrug, wie einen kalten Novemberregen, wenn man keinen Schirm hat und weit und breit kein Vordach ist, unter das man sich unterstellen kann.  

 

„Hmhm... Hmhm... Hmhm...“, machte meine Mutter auf die Art, die mir zu erkennen gab, dass sie schon lange abgeschaltet hatte und gedanklich bereits mit der Zubereitung des Abendessens begonnen hatte. Doch plötzlich herrschte Stille. Diese Art von Stille, bei der sich die Haare im Nacken aufrichten und der Atem zu fließen aufhört. Zwei Sekunden, drei Sekunden, vier Sekunden lang. Dann holte meine Mutter einmal sehr langsam sehr tief Luft und öffnete die Lippen. Ihre Bassstimme donnerte durch das Treppenhaus bis hinauf in den Schornstein und wieder zurück, dass alle Wände erzitterten. Die roten und blauen Glasrauten in den Fenstern klimperten verängstigt in ihren Bleieinfassungen.  „Zum Glück ist sie ja nicht Ihre Tochter!“ brüllte sie, dann knallte sie den Hörer auf die Gabel und verschwand in der Küche, um das zu tun, was sie im Geist bereits begonnen hatte.

 

 

Zwei Monate später saß ich in der neunten Klasse, nicht mehr in der achten, und Frau Reineke hatte wieder alles unter Kontrolle.