Berge und Kühe und Dirndl, nackte Füße im eiskalten Bach, blau-weißer Himmel und Gamsböcke, das macht einen ja ganz verrückt, wenn man verliebt ist!
Zwischen zwei Semestern klaubten wir ein paar Kröten zusammen, mein damaliger Freund und ich, der mit dem Vornamen, der sich anhörte wie ein kratziges Geräusch und mit dem Nachnamen, der klang wie Harfenmusik. Wir wollten eine Reise machen, in die Berge, dahin wo es so schaurig romantisch ist, wenn man verliebt ist.
Mit dem Fiat Panda seiner Mutter rollten wir in Köln West auf die Autobahn. Als es bei Bingen das erstmal leicht bergauf ging, träumte ich schon von blühenden Bergwiesen auf der Alm, von Kuhglockengebimmel und deftigen Wurstplatten zum eisgekühlten Weizenbier im Schatten mächtiger Kastanien. Die Lastwagen überholten uns hupend und fauchend auf der linken Spur, die Fahrer tippten sich mit den Fingern an die Stirn, die Verkleidung der Beifahrertür rappelte bedrohlich, wie eine leere Schubkarre, die von einem Schlagloch zum nächsten hüpft. Der Scheibenwischer hetzte von einer Seite zur anderen und wurde mit seiner Arbeit nicht fertig.
Im Rheinland herrschte schlechtes Wetter, in Baden Württemberg schlechtes Wetter, in Bayern schlechtes Wetter. Keine Landschaft zwischen Dom und Watzmann, nur Wolken und Regen. Keine Berge, keine Täler. Alles war grau und weiß und weiß und grau und weiß. Der Welt fehlt jede Tiefenschärfe. Die Geranien in den Blumenkästen blickten beschämt zu Boden, weil sie nicht genug Strahlkraft hatten, um Urlaubsstimmung zu erzeugen, und die Kühe standen bis zu den Knöcheln im Matsch und scherten sich nicht um den kleinen Panda, der die Serpentinen hochächzte. In den Biergärten lehnten sich die Stühle müde gegen die Tische, auf denen die Krümel der herabgefallenen Lindenblüten in den Regenlachen trieben. Die Postkartenständer hatten sich fröstelnd in das Innere der kleinen Läden zurückgezogen und warteten darauf, dass es wärmer würde oder Abend.
„Wir müssen mit der Gondel rauf fahren. Über die Wolken. Oben ist gutes Wetter“, verkündete ich optimistisch. Mein Freund knarzte zustimmend und folgte mir zur Gondelstation. Für die Fahrt nach oben investierten wir die Hälfte unseres Urlaubsbudgets.
Mit der Seilbahn schaukelten wir noch tiefer hinein in den Nebel, in die milchige Welt, frei von Dingen, von Bäumen, Menschen oder Tieren, frei von Richtung und Gewichtung. Das leise Schnarren des Seilbahnantriebs teilte die Stille und es rappelte, wenn die Gondel die Pfeilerkonstruktion passierte. Dann wieder nur Stille. Am Gefühl oberhalb des Magens spürte ich, dass es bergauf ging. Ich glotzte in das Leer, nicht sicher, ob die Gondelfenster überhaupt durchsichtig waren. Mein Blick irrte umher, wie das unkontrollierbare Auge eines Blinden, auf der Suche nach etwas, woran er sich festheften konnte. Vielleicht hatten wir den Gipfel längst hinter uns gelassen, schwebten weiter und weiter hinauf, hinaus aus der Atmosphäre bis tief hinein in den Weltraum. Die Zeit versickerte im Nebel, die Geräusche verhallten im Nirgendwo. Minutenlang starrten wir nach draußen, tasteten das Weiß ab nach Konturen. Dann kratzte der Gondelboden über Grund. Schlagartig war die Sicht so klar, dass ich über die Schärfe der Dinge erschrak, darüber dass die Welt so nah vor mir stattfand. Wir hatten die Bergstation erreicht, befanden uns im Inneren eines halboffenen Gebäudes, da wo sich der Nebel nicht hintraute. Die Tür zischte leise, wie ein Seehund, der nach Atem schnappt, dann teilte sie sich in der Mitte. Zaghaft setzten wir einen dicken Wanderschuh vor den anderen, ertasteten den Untergrund, als wären wir gerade auf einem fremden Planten gelandet, durchquerten das Drehkreuz über dem das Schild „zu den Liften“ hing. Dann verschluckte uns die Nebelwelt. Ich fühlte, dass meine Füße in den schweren Schuhen steckten, fühlte den Schotter unter den Sohlen, hörte das Knirschen, aber ich sah sie nicht. Meine Beine endeten an den Knien, als stünde ich bis über die Waden in dickem Schaum. Noch immer war ich entschlossen, die Wolkendecke zu durchstoßen und ein Stück strahlend blauen Himmel zu ergattern, irgendwo, nur ein paar Meter weiter, nur noch ein Stückchen weiter... Also tastete ich mich Schritt für Schritt den Weg entlang, der nach zu einer Aussichtsplattform führen musste. Ich hörte seine Füße neben meinen, hörte seinen Atem und sein Räuspern. Mehr Gewissheit gab es nicht, dass mein Freund noch bei mir war.
Es regnete nicht, aber die Ärmel unserer Jacken hatten sich an unseren Armen festgesaugt, wie Napfschnecken an den Felsen, um nicht von den Wellen zurück ins Meer geworfen zu werden. In unseren Haaren perlten die Tautropfen. Direkt neben uns blökte es im Nebel und der herbe Geruch nasser, fettiger Wolle stand im Dunst. Wir genossen die Aussicht auf das unveränderliche Weiß, atmeten die feuchte Luft ein, lauschten dem Gebimmel, das auf Schafe in einer Armeslänge Entfernung schließen ließ und dann langsam verschwand. Dann tasteten wir uns zurück zur Seilbahn.
Zurück im Tal zog auch in unseren Köpfen Nebel auf. Mit schweren Zungen bestätigten wir uns noch mal und wieder und noch ein weiteres Mal, dass die Wirkung von Bergen, Kühen, Dirndln, nackten Füßen im eiskalten Bach, blau-weißem Himmel und Gamsböcken keinen Einfluss auf die Gemütslager junger Liebespärchen hat.
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