Fotografieren ist mir lästig, aber es gab Zeiten, da hätte ich Fotos gut gebrauchen können, da hätte ich mich gerne an die Gesichter der coolen Jungs aus der Ferienfreizeit erinnert, hätte gerne den lässigen Look der Mädchen auf dem italienischen Campingplatz kopiert, wofür eine fotografische Vorlage von Vorteil gewesen wäre; ich hätte gerne Bilder gehabt, aus der Zeit, als ich das erste Mal vor Verliebtheit über meinen eigenen Herzschlag stolperte. All diese Fotos hätte ich gerne an meine Pinnwand geheftet. Aber ich besaß nicht das passende Equipment, um solche Bilder zu erschaffen. Ein Teenie heute kann sich das nicht vorstellen.
Fotos, Fotos, Fotos. Nicht nur vom Palmenstrand und Gipfelkreuz, auch vom Stau auf der A61, vom abgebrochenen Fingernagel und dem verbrannten Toast Hawaii in der knappen Mittagspause. Alles wird abgelichtet. Dazu kommt ein Zunami an Selfies: von vorne, hinten, seitwärts, mal untersichtig, mal aufsichtig, profilig, mit Freundin und ohne, Sonnenbrille, Pokerface, Schmollmund, lächelnd, ernst und schlafend. Nichts, was vor dem Smartphone sicher wäre, nichts was nicht seinen Weg ins Netz findet. Alles wird dokumentiert, kommentiert und retouchiert. Fotos verstopfen alle Kanäle, analoge, digitale, virtuelle.
Mein erster Fotoapparat war eine gebrauchte Poketkamera. Sie sah aus wie eine Schachtel Erfrischungsstäbchen, nur dass sie vorne ein Loch hatte und hinten ein Loch. Zu dem einen schaute man hinein, zu dem anderen heraus. Obendrauf, wo bei den Erfrischungsstäbchen das Bild von der grinsenden Apfelsine war, gab es ein orangefarbener Knopf, der mechanisch klickte, wenn man ihn drückte. Dazu gab es eine Viererpackung Blitzwürfel, zu teuer, um sie arglos zu verschwenden. Ich liebte das Ritschratsch, mit dem der Film von einem Bild zum nächsten transportiert wurde. So schoss ich meine ersten eigenen Aufnahmen von verwelkten Geranienrabatten, vom Zebragehege im Zoo, vom roten Schaukelgestell im Nachbarsgarten, immer wieder die rechte Hälfte meiner Großtante mit im Bild, die vor dem Fotoobjekt nach meinen Anweisungen posierte, dann aber brutal durch die erbarmungslose Seitenkante von ihrer rechte Hälfte abgespalten wurde. Gewissenhaft klebte ich jedes entwickelte und vergrößerte Foto in ein Album, verwackelte neben unscharfe neben solche mit gescheitertem Bildausschnitt und alle weit entfernt von dem, was meine Geschwister fotografisch zustande brachten.
Ein paar Jahre später fand ich ein Päckchen unter dem Weihnachtsbaum mit meinem Namen darauf. Darin befand sich der gute alte Fotoapparat meines Opas. Von ihm hieß es (dem Apparat, nicht dem Opa!) er sei unsterblich, er erlebe noch das nächste Jahrtausend und er habe eine Qualität, an die reichten die modernen Dinger einfach nicht heran, kurz: er war ein Schätzchen der besonderen Art und ich sollte nun alt genug sein, um den Apparat anvertraut zu bekommen. Der Apparat hatte einen Sucher, ein Objektiv, an dem es verschiedene Ringe gab, darauf rätselhafte Zahlen. Die Ringe ließen sich in winzigen Stufen rechts- oder linksherum drehen und sie klickten dabei leise aber entschlossen. Was die Zahlen zu bedeuten hatten, davon hatte ich keinen Schimmer.
Meine Mutter, mein Bruder und meine Schwester erklärten mir das Prinzip von Tiefenschärfe, Belichtungszeit und Entfernung zum Objekt. Wieder, immer wieder, bis ich es verstanden hatte und sofort wieder vergaß. Ich guckte durch das kleine Fensterchen und drückte den Auslöser. Das Ergebnis war künstlerisch wertvoll, souvenirtechnisch unbrauchbar und fotografisch katastrophal. Die Bilder waren doppelt belichtet, die Sonne überstrahlte unkontrolliert die Szenerie und malte amorphe Erscheinungen über den Köpfen der abgelichteten Personen, als wohnten diese der Geburt eines neuen Sterns bei.
„Was hast du denn jetzt schon wieder gemacht?“, grummelte mein Bruder, dessen Stimme zwischen den Registern hin- und zersprang wie die Sirene eines Rettungswagens und fällte das unumstößliche Urteil, meine interessanten Bilder seien ausschließlich meinem Unverständnis der korrekten Handhabung des ehrwürdigen Fotoapparates zu verdanken. „Du kannst das nicht!“ hallte es tausendfach in meinen Ohren.
Trotzig startete ich einen weiteren Versuch, mit Opas Erbstück Fotos zu schießen, auf denen neben den üblichen Ufos und Geistergestalten auch Bauwerke und Menschen zu erkennen sein sollten. Es misslang. Dann erklärte meine Mutter sich bereit, den Apparat überholen zu lassen. Dabei stellte sich heraus, Opa hin oder her, das Ding war abgenudelt, ausgelutscht und schrottreif. Der Transport funktionierte nicht mehr, die Klappe hinter der sich der lichtempflindliche Film verbarg, blieb immer einen winzigen Spalt offen, Schärfe und Belichtung ließen sich nicht mehr akkurat einstellen, egal wie viel man an den Rädchen drehte.
Das unerwartete Ende des Fotoapparats hatte natürlich alleine ich zu verantworten, denn bis zu jenem Heiligabend, an dem ich das Gerät bekommen hatte, funktionierte es einwandfrei. Komisch nur, dass meine Geschwister das Schätzchen, trotz seiner lobenswerten Eigenschaften, so freizügig an mich weiter gegeben hatten, und selbst unter dem Weihnachtsbaum neue Fotoapparate auspackten.
Daran, dass mir Fotografieren lästig ist, hat auch die moderne Technik nichts geändert, aber heute kann ich mir sicher sein, irgendwer hat die Situation mit seinem Handy aufgenommen, an die ich mich irgendwann erinnern möchte, mein Mann oder meine Tochter, Freunde, Schaulustige oder einfach nur ein Selfiist, dessen selbstverliebte Aufnahme ich im Hintergrund kreuze. Daher kann ich mich weiterhin dann und wann darauf konzentrieren, Ufos, Geister und Sterngeburten abzulichten.