Großtante

„Das ist nicht meine Oma! Das ist meine Großtante“, fauchte ich den Mann an der Hotelrezeption an, der mir einen Lolli entgegenstreckte. Wie mir das auf die Nerven ging! Egal, wohin wir gingen, ins Restaurant, ins Hotel, ob der Eisenbahnschaffner unserer Fahrscheine kontrollierte, ob wir ein Museum besuchten oder uns beim Zuckerbäcker mit Naschzeug eindeckten, alle hielten Thekla für meine Oma und mich für ihren süßen Enkelsohn, dem man einen Lutscher schenkten oder über den Kopf streichen durfte. Gegen das erste hatte ich nichts. Dass man mich für einen Jungen hielt, daran hatte ich mich gewöhnt und ich fand es nur gerecht, dass mein Bruder, der den gleichen Topfschnitt trug wie ich, ständig für ein Mädchen gehalten wurde. Aber Haare wuscheln war mir zuwider. Und dass man Thekla für meine Oma hielt, war einfach ungeheuerlich!

 

Meine Oma sah ganz anderes aus als Tante Thekla. Man hätte die beiden nicht verwechseln können! Meine Oma war klein, hatte ein Muttermahl am rechten Nasenflügel, das ich auf keinen Fall anfassen durfte, weil sie das böse machte. Ich weiß das, weil ich es ausprobiert habe. Und Omas obere Zahnreihe schwebten dann und wann auf rätselhafte Weise zwischen Ober- und Unterkiefer. Das verursachte ein Gurgeln beim Sprechen, als habe meine Oma einen Wasserhahn im Mund, dessen Strahl zu viel Luft mitführte. Doch kaum versuchte ich mir das gruselige Innenleben ihres Mundes genauer anzusehen, saßen die Zähne wie auf Kommando wieder an ihrem Kiefer. Ich kannte nur festsitzende Zähne, Wackelzähne und Zahnlücken. Aber keine beweglichen Zahnreihen. Daher küsste ich meine Oma lieber nicht, wenn sie mir ihre weiche Wange hinhielt. Wie konnte ich mir sicher sein, ob ihre Zähne nicht aus dem Mund heraussprangen und mich bissen? Erst als ich Jahre später Werbung für Haftcreme im Fernsehen sah, verstand ich, was in der Mundhöhle meiner Oma los gewesen war.

 

Eine zweite Oma hatte ich nicht, obwohl ich wusste, dass jeder Mensch zwei Omas und zwei Opas haben muss, sofern die Eltern keine Geschwister waren und das waren meine offensichtlich nicht, auch wenn ich das lange Zeit geglaubt hatte. Meine zweite Oma also, die ich nicht hatte, die hat es nie geschafft, Oma zu werden. Sie hatte gerade noch mitbekommen, dass sie Mama geworden ist. Kurz danach ist sie gestorben. Aber diese Oma, die keine war, hatte eine ganze Kompanie Schwestern, die alle unsere Großtanten wurden. Ganz von selbst. Und die Anführerin dieses Tantenkomandos war Thekla, auch „Der Thekl“ genannt.  

 

Der Thekl hatte eine große Nase, die sie hin und wieder mit einem Puderquast abtupfte. Sie mochte es nicht, wenn sie glänzte. Ihrer Meinung nach machte sie das noch größer. Der Thekl hatte stets „gemachtes Haar“, wie sie es nannte, das sie vor Regen mit einer Plastikhaube und vor Wind mit einem Haarnetz schützte. Zum Sitzen brauchte sie nur einen halben Stuhl, wobei sie die Linke Hälfte ihres Hinterteils auf der Sitzfläche niederließ, die andere Hälfte schwebte in der Luft, stets zum Sprung bereit. Der Thekl vermied alles, was die „Leut“ dazu verleiten könnte, sie für eine „alte Schachtel“ zu halten: orthopädische Schuhe, Einkaufswägelchen, das man bequem hinter sich her ziehen konnte und Gehstock.

 

Der Thekl hatte mich zu seinem Liebling erkoren und beschlossen, mir alles beizubringen, was sie für wichtig hielt. Im Grunde war das nur eine einzige Sache: „Nimm dich vor fremden Leut in Acht!“. Damit meinte sie nicht die Menschen im Allgemeinen, sondern nur die männlichen Geschlechts, ausgenommen direkten Verwandte, Pfarrer und Männer, die ein „Von“ im Namen trugen. Sicherheitshalber begleitete der Thekl mich jahrelang von der Musikschule zur Straßenbahnhaltestelle. So konnte ich nicht geraubt werden oder unter schlechten Einfluss unbekannter und damit gefährlicher Männer geraten. Sie bläute mir ein, auf der belebten, den Häusern zugewandten Straßenseite zu gehen, nicht am Gebüsch entlang. Ich dachte lange darüber nach. Am Gebüsch ging keiner entlang, folglich auch keiner, vor dem ich irgendetwas zu befürchten hatte. Ich kam zu dem Schluss, dass wir uns missverstanden haben mussten, der Thekl und ich, und ging fortan die Wege, die durchs Verborgene führten und menschleer waren, um jeder Gefahr zu entgehen. Das klappte ganz hervorragend.

 

Der Lutscher steckte in der ausgestreckten Hand des Portiers. Ich schaute zu meiner Großtante hoch, wollte wissen, ob ich den Lolli annehmen durfte. Meines Ermessens gehörte der Mann nicht zur Familie, war vermutlich kein Pfarrer und nichts deutete darauf hin, dass er adligen Geschlechts gewesen sein könnte. Der Thekl nickte trotzdem, woraus ich schloss, dass der Mann ein mir unbekannter Onkel sein musste. Ich schnappte mir den Lutscher und fummelte begierig an dem Papier, um an die farbige Zuckerkugel zu gelangen. „Dann wünsche ich Ihnen und Ihrem Enkel einen angenehmen Aufenthalt in unserem Haus“, sagte der Mann und reichte dem Thekl den Zimmerschlüssel.

 

 

Ich lernte viel Rätselhaftes über Männer, was ich ohne den Thekl möglicherweise nie erfahren hätte.

 

Und in den nächsten Jahren lernte der Thekl viel Aufschlussreiches über Männer, was sie ohne uns nie erfahren hätte. Der Thekl lernte, dass sie keinen Einfluss auf die Wahl unserer Freunde hatte, dass auch Adelstitel keine Garantie für die ewige Liebe sind, dass es Väter unehelicher Kinder gibt, die freiwillig den Kontakt zu Mutter und Baby aufrechterhalten und sie lernte, dass mancher Mann es Wert ist, sich ihm anzuvertrauen. Diese wichtige Lektion hatte der Thekl im Alter von 99 Jahren in der Nacht absolviert, in der Micha und ich meinen Eltern bei einem schweren Rotwein unsere Hochzeitspläne mitteilten und der Thekl entschied sich, am nächsten Morgen nicht mehr aufzuwachen. Sie hatte erledigt, was zu erledigen war.