Anführerin

Drehfertig machen!“, tönt es durch das Headset direkt in mein Gehirn. Leichter gesagt, als getan, wenn keiner auf die Setaufnahmeleiterin hört. „Verstanden!“, gebe ich zurück. Es knackt und raschelt im Funk, piepen, dann Stille. Jetzt ist es an mir, das Team aus dem Wartemodus wieder ans Arbeiten zu kriegen. Ich stecke den Kopf in das Maskenmobil, um Darsteller Pierre ans Set zu bitten. Wie immer, komme ich gerade ungelegen. Die Maskenbildnerin scheucht mich davon, wie eine lästige Stechmücke. Ihre Hände schweben über Pierres Haupt, seine Augen sind geschlossen. Es riecht nach Patchuli. Seit der letzten Szene hat sich die Maskenbildnerin vom schmolllippigen Babydoll auf ein Goa-Blumenmädchen mit Klebe-Bindie zwischen den Augen umgestylt. „Nicht jetzt!“, zischt sie mich an. Ich ziehe die Tür leise zu. „Pierre kommt!“, funke ich zurück und vernehme, wie hinter der Tür eine Klangschale angeschlagen wird.

 

Die beiden Garderobieren, eine mit Essstäbchen in den hochgesteckten Haaren, die andere mit einem Stecknadelkissen am Handgelenk, knoten ihre Beine um das Stativ des großen Scheinwerfers und reden darüber, wo man zurzeit die besten Cocktails der Stadt schlürfen kann. „Wir sind schon lange fertig!“, kokettieren sie und betonen, dass es noch nie zu Drehverzögerungen wegen ihnen gekommen ist, nicht mal bei der Affenhitze und ich solle nicht so einen Druck machen. Zur Abkühlung besprühen sich die beiden gegenseitig mit Thermalwasser aus einer Spraydose. Der Kameramann überlegt, ob er noch mal die Optik wechselt. Der Oberbeleuchter kommt kauend vom Cateringtisch zurück und beschwert sich, dass er immer dicker wird, weil neben dem Obst die Schüssel mit den Süßigkeiten steht und es dann ja wohl klar wäre, dass er die Süßigkeiten bevorzugt. Ich versuche den Vorwurf in seiner Stimme zu überhören. Die Requisiteurin mit dem kahl geschorenen Schädel bastelt an einem Kerzenleuchter, dem ein Bein abgefallen ist und versucht ihn mit Knetmasse an der Tischplatte fest zu kleben. Dann nimmt sie den Akkuschrauber, verschwindet unter dem Tisch und löst die Sache auf ihre Art.

Mein Handy klingelt. Endlich ruft der Fahrer zurück! „Wo steckst du?!“ In einer Kurve hat sich das Stromaggregat von der Anhängerkupplung gelöst und ist in den Graben gerollt. Auch das noch! Jetzt wartet er darauf, dass ihm ein Bauer mit seinem Traktor hilft. Wir hätten das Ding schon vor einer halben Stunden hier gebraucht! Wenige Tage später stellt sich heraus, dass die Produktionsleitung einen Junkie als Fahrer eingestellt hatte, der schon zwei Mal aus dem Methadonprogramm geflogen war. Regiesseur Sven blickt auf die Uhr und fordert mich auf, die Session im Maskenmobil zu unterbrechen. Seine Konsonanten haben an Schärfe zugenommen und mir ist klar, dass seine Geduld nachlässt. Da schwebt die Patschulischönheit mit dem tiefenentspannten Darsteller an mir vorbei zum Set, baut sich vor der Kamera auf, wie Lady Gaga, tänzelt von einem Fuß auf den anderen und grinst in das Objektiv, dass sie jetzt drehen können, alles sei easy und ready und primstens. Dann umnebelt sie den Kameraassistenten mit Deo, weil sie sein Geruch nach Schweiß und Arbeit belästigt. Sven stöhnt in den Funk. „Na, endlich!“ So lief das in der allerersten Staffel von Switch, als wir alle noch Anfänger waren.

 

Ich hatte einen Vertrag als Setaufnahmeleiterin bekommen, nachdem ich als Praktikantin einmal bei einer Studioproduktion mitgelaufen war. Ein Set mit einem dreißigköpfigen Team unter freiem Himmel hatte ich bis zu unserem ersten Drehtag noch nicht gesehen. Vermutlich war das auch gut so. Kurz: ich hatte keine Ahnung, was ich zu tun hatte, aber das war ich gewillt mit ganzer Kraft in Angriff zu nehmen. So ging es den meisten am Set. Learning by Doing. Und tatsächlich wurden wir jeden Tag besser. Die Autokorrektur meine Computers schlägt mir geradeLearning by Doping“ vor, was es für manche Kollegen noch treffender beschrieben hätte. Das Gute war: wir hatten alle Lust auf unseren Job, wir liebten das improvisierte Arbeiten und verwandelten all unsere Kräfte um in beste Fernsehunterhaltung. Die Wenigen im Team, die wussten, wie man einen richtigen Film dreht, erklärten den anderen, was in ihre Aufgabengebiete gehörte. Mich klärte man zuletzt auf. Wie auch? Ich wurde ununterbrochen per Funk gerufen oder mein Handy klingelte. So erfuhr ich erst am Ende meiner Kraft und am Ende meiner Nerven, dass ich den Job einer ganzen Abteilung alleine bestritt. Dann erfuhr ich, dass ein Setaufnahmeleiter nicht alleine eine dreispurige Kreuzung sperren können muss, nebenbei bergeweise Brötchen schmiert und Kaffee in großen Mengen bereit zu stellen hat, der mittels einfacher Filtermaschinen, von Mama, Oma und Nachbarin zusammen geliehen bereitet wird, heiß und frisch, um dem Drehteam seine angemessenen Pausen zu ermöglichen. Ich erfuhr, dass ich nicht hätte als Double für Darsteller einspringen müssen, die wegen der Geburtstagsparty irgendeiner Cousine früher weg mussten. Ich hätte keine Kleindarsteller am Bus abholen müssen, weil sie den Weg von 500m zum Set zu mühselig fanden und ich hätte auch nicht alleine dafür sorgen müssen, sechs Biertischgarnituren morgens auf und abends abzubauen, aus dem Auto zu hieven in das Auto zu bugsieren und ganz nebenbei noch den Einkauf für den nächsten Tag zu erledigen, die herumfliegenden Becher einzusammeln, Geschirr zu spülen, Miettoiletten zu bestellen und Komparsen auszubezahlen.

 

Nach einer Woche war ich fix und fertig und davon überzeugt, dass der Job der Set-Aufnahmeleiterin nicht der richtige für mich sein konnte, obwohl ich mich bis dahin für belastbar hielt. Und leider stand ich mit dieser Meinung nicht alleine da. Die Komparsen drangsalierten mich mit Fragen über ihre Sozialversicherung und Lohnsteuerkarte, Autofahrer drohten damit, die Polizei zu holen und Anwohner liefen durch den Bildausschnitt und winkten in die Kamera. Wenn ich heute daran zurück denke, tut mir schlagartig alles weh und leise ertönt das Liedchen von Deichkind in meinem Kopf: „Alles muss man selber machen lassen.“ Den Song gab es damals noch nicht, sonst hätte ich früher gemerkt, dass hier etwas grundverkehrt lief.

 

Kurz bevor ich durchdrehte, an einem dieser Drehtage, an denen ich mir keine Zeit blieb, zur Toilette zu gehen, machte ich eine bemerkenswerte Entdeckung. Gerade war eine Szene im Kasten. Darsteller Pierre, der als Polizist mit vorgehaltener Pistole um einen Streifenwagen hatte schleichen müssen, zog seine Perrücke vom Kopf, legte die Waffe auf das Autodach und verschwand zum Cateringtisch. Gewohnt, am Set für Ordnung zu sorgen und meine Augen überall gleichzeitig zu haben, griff ich mir die Knarre und steckte sie, neben Handy, Funkgerät, Dispo, Absperrband und dickem Portemonnaie in die einzige noch freie Hosentasche. Dann setzte ich den Streifenwagen für die nächste Szene um. Und auf einmal geschah alles, wie von Zauberhand. Die Autofahrer warteten geduldig darauf, bis ich ihnen die Durchfahrt gewährte, die Anwohner unterließen alle Versuche die Absperrung zu übertreten und die Komparsen füllten schon nach der ersten Aufforderung ihre Personalbögen aus, sie hatten auch keine Fragen mehr zu ihrer Bezahlung. Der Job erledigte sich fast wie von selbst. Nach Feierabend zog ich statt der Funke eine Knarre aus meiner Tasche. Das war es also gewesen! Ich hatte den ganzen Tag die Pistole in der Hosentasche gehabt! Erstaunlich, was eine Waffe alles bewirken kann.

 

Wenig später beförderte man mich zur Ersten Aufnahmeleiterin. Ich bezog ein Büro mit Computer, Drucker, Kopierer, Fax und Telefon, das häufiger klingelte, als das im weißen Haus und ich bekam ein Fahrzeug, mit dem ich jederzeit zum Set heizen konnte, bevor dort jemand durchdrehte. Dann stellten wir ein Team zusammen: Setaufnahmeleitung, zwei Setrunner, zwei weitere Fahrer ohne Drogenhintergrund, später stockten wir noch auf um einen Locationmanager, und Straßensperrungen ließen wir durch eine Firma erledigen. Und wenn mein Nachfolger am Set verkündete, dass drehfertig gemacht werden sollte, dann wurde auch drehfertig gemacht. Und dafür liebte ich ihn jeden Tag. Wie einfach kann das Leben sein! Ganz ohne Waffengewalt. Und wenn das am Set geht, müsste das andernorts doch eigentlich auch funktionieren! Oder?