„Die können mich ja sehen!“, stellte ich voller Überraschung fest, als mich das Mädchen neben mir am Ende der ersten Schulwoche fragte, wie ich heiße. Was für ein Schreck!
„Die können mich nicht nur sehen, die haben auch eine Meinung darüber, ob ihnen gefällt, was sie sehen!“, erweiterte ich meine Erfahrung ein paar Jahre später. Das war zu der Zeit, als mein Spiegelbild anfing, mich so komisch anzugucken, so als habe es mich vorher noch nie gesehen, sich über mich lustig machte und mir androhte, mir die Freundschaft aufzukündigen, wenn ich nicht ein bisschen mehr aus mir machte.
Meine Proportionen hatten sich seltsam verschoben, der Schwerpunkt meines Körpers wanderte von Tag zu Tag fröhlich durch die
Gliedmaßen, als wäre mein Leib angefüllt mit glibberiger Masse, die mal hierhin, mal dorthin schwappte, ganz wie die Schwerkraft oder sonst ein mir unerklärliches Phänomen es anordnete. Was
früher flach und dünn war, wölbte und rundete sich zusehends. Und das kam nicht durch Verformungen der Spiegeloberfläche des antiken Kleiderschrankes meiner Eltern zustande, wie ich es zuerst
gehofft hatte. Ich stolperte über meine Füße und das verändert Gewicht einzelner Körperteile brachte mich zum Straucheln. Äußerlich und innerlich. Es stimmte überhaupt nichts mehr.
„Du sagst mir doch Bescheid, wenn ich fett bin und es nicht merke?!“, bat ich meine Freundin, selbst dürr wie ein Birkenzweig. Ich fragte mich, ob Dicke wissen, dass sie dick sind. Warum sonst vermieden die Leute es in Gegenwart Übergewichtiger über deren massigen Körperumfang zu sprechen? Folglich konnte auch mich dasselbe Schicksal ereilen. Ich könnte dick werden und es nicht merken. Oder schlimmer noch: es war längst passiert, ich war längst selbst ausgeufert, wie ein gestrandeter Wal, hatte meine natürlichen Grenzen gesprengt und die anderen lachten hinter vorgehaltener Hand über mich. Ich hetzte von der Waage zum Spiegel, betrachtete mich in Schaufensterscheiben und geputzten Autotüren. Ich konnte aus dem flächigen Abbild einfach keine Rückschlüsse ziehen über meine dreidimensionale Erscheinung, sah nur Poren, Pölsterchen, Dellen, Flecken, inspizierte meine Oberfläche quadratmillimetergenau und kam doch zu keinem Ergebnis. War ich so in Ordnung, wie ich war? Meine Freundin versprach, alles sei bestens und wir redeten nie wieder darüber. Bis heute nicht.
Ich übte vor dem Spiegel, alles was ich in den Zeitschriften meiner Freundinnen gesehen hatte: Schmollmund, Augenaufschlag, Hundeblick, naives Lächeln, mit Hut, mit Rose und diesem tiefgründigen Blick, der von Geheimnissen spricht. Und immer ein bisschen kokett.
Da der Spiegel mein einziger Trainingspartner war, überprüfte ich dann und wann das Zwischenergebnis mittels Fotografie. Die Bilder entstanden, den Apparat am ausgestreckten Arm, hinter geschlossener Zimmertür, denn nichts hätte peinlicher sein können, als dabei erwischt zu werden, wie man sich selbst ablichtete. Und genau das passierte natürlich. Meine Schwester platze herein, wollte wissen, was ich da mache, ob sie mitspielen kann und ob ich nicht auch ein paar Fotos von ihr schießen könnte, weil ihr langweilig sei und mit mir mache es ja viel mehr Spaß.
Ich investierte mein Taschengeld für Entwicklung und Abzüge, aber die Bilder sahen scheiße aus. Die von mir. Die Bilder meiner Schwester waren natürlich, süß, sogar kokett. Also hängte ich den Augenaufschlag an den Nagel, weil ich mich nicht komplett blamieren wollte und vernichtete die Fotos.
Heute beobachte ich meine zwölfjährige Tochter, die Hunderte von Selfies pro Tag produziert, nicht nur im stillen Kämmerlein, auch vor dem Sonnenuntergang, in ihrem Lieblingsklamottengeschäft, vor der Eisdiele, mit Freundinnen, an der Bushaltestelle und beim Fußballtraining. Und sie weiß längst, dass nicht nur ihre Banknachbarin sie sehen kann, sondern auch alle Freunde und Freundinnen, mit denen sie per Instagram verbunden ist und die jedes Bild mit Herzchen und Küsschen kommentieren. Mal nervt es mich, mal amüsiere ich mich darüber, aber eines weiß ich gewiss: hätte es damals schon Smartphone, Selfiestange und Snapchat gegeben: ich hätte es ganz genauso gemacht. Dann hätte es vielleicht auch mit dem Augenaufschlag geklappt. Jetzt mach ich eben den Mund auf, wenn ich was haben will.