Leerlauf

„Maamaaaa, was soll ich maaachen?“ Wenn das meine Kinder rufen, dann höre ich meine eigene Stimme, höre, wie ich selbst als kleines Mädchen gerufen habe, wenn mich Langeweile und Lustlosigkeit gepeinigt hat. Jemand sollte mich aus meiner Trübsal befreite, mich unterhalten und dafür sorgen, dass ich mich nicht länger auf dem Boden herumwälzen musste, wie ein Straßenköter in den Hinterlassenschaften seiner Mitvierbeiner.  

 

Doch meine Mutter machte immer die gleichen unattraktiven Vorschläge: Zimmer aufräumen, Geige üben oder ein schönes Bild für Tante Thekla malen. Bevor ich mich darauf einließ, schnappte ich mir lieber mein Fahrrad und suchte das Viertel nach anderen gelangweilten Artgenossen ab. Aber meistens war da niemand. Also musste ich alleine Fahrradfahren. Nur, was bringt einem eine tolle Rallyestrecke, an der man gestern noch begeistert zusammen gebuddelt hat, wenn man heute alleine darüber rollt? Wie trostlos ist der Spielplatz, wenn Schaukeln und Klettergerüste ausgestorben sind und man als einzige mit dem Fahrrad durch den Sand pflügt? Damals habe ich das erste Mal darüber nachgedacht, wieso man sich nicht richtig amüsieren kann, wenn man alleine ist. Und meine Überlegungen sind bis heute noch nicht abgeschlossen.

 

An einem dieser Nachmittages kam es, dass ich mit dem Fahrrad lustlos unsere Straße auf und ab fuhr. Ich radelte Schlangenlinien, Achten, nahm die Kurven enger und enger, bis es mir gelang, auf der Fahrbahn vor unserem Haus im Kreis herum zu fahren, ohne im Jägerzaun zu landen. Als ich mit meinen Kreisen zufrieden war, steigerte ich die Geschwindigkeit. Als ich das mir höchst mögliche Tempo erreichte hatte, machte ich die Augen zu. Eine Runde. Zwei Runden. Drei Runden. Pardauz! Es tat einen Schlag und ich fand mich auf dem Asphalt wieder.

 

Mir tat das Knie weh, mein rechte Knöchel brannte wie Papas Rasierwasser und in meinem Mund schmeckte es nach warmem Blut. Ich öffnete die Augen. Neben mir lag mein Fahrrad, das Hinterrad drehte sich in der Luft und ächzte bei jeder Runde, wie eine von Ischias geplagte Alte beim Treppensteigen. Über mir trudelte unser Haus mit den sonnengelben Vorhängen, der Rasen mit den Gänseblümchen kreiselte um sich selbst, die rosa blühende Zierkirsche, die zerzauste Tanne drifteten auseinander und flogen aufeinander zu, als habe die Erde spontan die Rotationsrichtung geändert. Mein Gehirn sendete einen glasklaren Gedanken: „Das war eine verdammt dumme Idee!“

 

Ebendiese Meinung vertrat auch die alte Dame, die unweit von mir ebenfalls auf dem Asphalt hockte, ihre Frisur aus der Form geraten, der Rock bis zu den Oberschenkeln hochgerutscht, die hautfarbene Stumpfhose eine einzige Laufmasche. Ein Apfel kullerte den Grashügel hinunter. Ihre restlichen Einkäufe lagen auf der Fahrbahn.

 

Ich half der Frau auf die Beine, richtete ihr Fahrrad auf, klaubte, Zahnpasta, Wurst und Tütensuppe vom Boden, legte alles in den verbogenen Fahrradkorb, ließ Arme und Kopf hängen und entschuldigte mich sehr leise, bevor sie mich mit Beschimpfungen niederknüppelte, bis ich tief im Straßenbelag steckte. Als die Dame fertig war, schob sie ihr Fahrrad humpelnd davon. Ich beschloss, meinen Eltern nichts von dem Vorfall zu erzählen und überlegte, ich könne es beim nächsten Anfall von Langeweile doch mal mit Zimmeraufräumen versuchen.