Mein Opa heißt Daddy, der kann chinesisch und schnarcht beim Mittagsschlaf, und ich habe einen zweiten Opa, der wohnt in der Schweiz und darum nennen wir ihn den Schweizer Opa. Ich war noch nie in der Schweiz und kenne den Schweizer Opa nicht. Er hat mal ein Paket geschickt mit Schokolade und Spielsachen und hat versprochen, dass er herkommt und uns besucht. Die Spielsachen in dem Paket waren aus Plastik. Wir haben sie ausgepackt, gestaunt und sie danach nie wieder in die Hand genommen. Die Schokolade war schwarz und so bitter, wie Brikett. Mir tun die Kinder leid, die das essen müssen. Papa sagt, es sei eine Delikatesse. Es muss schrecklich sein in der Schweiz.
Tante Thekla sagt, dass der Schweizer Opa in der Schweiz bleiben soll. Sie sagt das mit so einem Ton in der Stimme, als hätte sie gerade von der bitteren Schokolade abgebissen und wolle sich nicht anmerken lassen, dass der Kohlegeschmack ihr den Mund zusammen zieht, und Papa findet, dass Opa es nicht verdient hat, dass sie so über ihn spricht und dann stellt sich raus, dass Papa den Schweizer Opa selbst gar nicht kennt, obwohl das doch sein Vater ist. Und deshalb findet Tante Thekla auch, dass er gut reden hat. Ich habe lange darauf gewartet, dass der Schweizer Opa uns besucht, bis ich es irgendwann vergessen hatte. Die Schokolade haben Papa und Mama alleine gegessen, nur meine Schwester Eva hat einmal ein Stück davon abgebissen und „Hm, lecker“ gesagt und so mit der Zunge geschnalzt, als gäbe es nicht Besseres auf der Welt, obwohl ich ihr genau angesehen habe, dass sie die Schokolade eklig fand, aber das wollte sie nicht zugeben, wegen dem Opa. Sie mag es nicht, wenn jemand wegen ihr traurig ist. Und dann, eines Tages ist der Schweizer Opa doch gekommen und keiner hat es vorher gewusst.
Es war an so einem ganz normalen Tag, als ich dahinter gekommen bin, dass er da war, einem Tag mit Schule und Busfahren und Hausaufgaben und so. Wir drei Kinder gingen von der Bushaltestelle heim, mit einem so großen Abstand, dass niemand uns für Geschwister halten konnte. Mir knurrte der Magen und ich wollte Mama alles aus der Schule erzählen. Darum lief ich voraus. Und ein bisschen auch, weil ich immer voraus lief. Ich komme nicht gerne zu spät, nicht zur Schule und auch nicht nach Hause, weil ich nichts verpassen will. Mein Bruder geht immer als letzter. Morgens verlässt er siebeneinhalb Minuten bevor der Bus abfährt, das Haus und erreicht die Haltestelle in dem Moment, wenn der Bus am Ende der Straße auftaucht. Dann stehe ich schon lange da, trete von einem Bein auf das andere, beobachte die Leute, die aus den Häusern kommen und in ihre Autos steigen. Es sind jeden Morgen dieselben. Auf dem Heimweg stehe ich von meinem Sitzplatz auf, sobald der Bus an der Haltestelle vor der, an der ich aussteigen will, anfährt, hangele mich während der Fahrt von einem Griffstange zur anderen bis zur Tür und drücke den Halteknopf. Dann macht es beim Fahrer „bing“ und ein Schild an der Busdecke leuchte auf: „Wagen hält.“ Immer wieder denke ich darüber nach, wieso es wichtig ist zu wissen, dass der Wagen hält. Mein Bruder bleibt auf seinem Platz in der vorletzten Reihe sitzen, wartet den Ruck ab, der nach dem Bremsen kommt und steht erst auf, wenn die Türen offen sind. Dann steigt er mit wenigen großen Schritten aus, ganz in Ruhe und keine Sekunde zu früh. Und meine Schwester, die Mittlere von uns dreien, tut alles genau dazwischen.
Mein Ranzen war schwer an diesem ganz normalen Tag und mein rechter dicker Zeh stieß bei jedem Schritt von innen gegen den Schuh. Aber das behielt ich für mich, sonst hätte ich die abgelegten Schuhe meiner Schwester bekommen und die waren echt hässlich. Von hinten hörte ich den Motor eines Autos. Ich hüpfte an den Straßenrand, um Platz zu machen und schaute dem Auto entgegen. Ein Auto, eckig wie ein Schuhkarton. Beige. Sah ziemlich neu aus und teuer. Es fuhr langsam neben meinem Bruder her. Der Fahrer kurbelte die Scheibe runter und sprach mit ihm. Martin schüttelte den Kopf und ging weiter. Der Wagen rollte bis auf die Höhe meiner Schwester. Auch mit ihr wechselte der Fahrer ein paar Worte. Sie hörte zu, kratzte sich am Knie und schüttelte etwas zaghafter den Kopf, als Martin. Dann kam das Auto dahin, wo ich stand. Der Mann bremste neben mir, winkte mich heran und sagte „Hallo“ durch das Beifahrerfenster. Aus dem Auto roch es nach Leder.
„Die Kirschen in meinem Garten sind reif. Komm doch mal vorbei. Du kannst so viele pflücken, wie du willst.“, sagte der Mann, als wären wir jedes Jahr zur Kirschenzeit verabredet. Aber ich konnte mich nicht daran erinnern, ihn schon mal gesehen zu haben. Und seinen Kirschbaum kannte ich auch nicht. Er sagte, er hieße Herr Schweizer und wohne in den Sackgasse ganz hinten in dem Haus mit der Holzveranda, das müsse ich doch wissen und ich solle ihm ruhig ein Küsschen auf die Wange geben und da wusste ich: Er war mein Schweizer Opa, denn nur Verwandte wollen geküsst werden, Tanten, Onkels und Großcousins, ob sie faltig sind oder unangenehm riechen. Aber dieser Opa roch gut, nach Blumenstrauß und Bohnerwachs, er war ganz glatt im Gesicht, nicht haarig wie Papa und er hatte sein Versprechen wahr gemacht und war hergekommen. Ja, gleich nach dem Essen wollte ich zu ihm rüber gehen und Kirschen pflücken, nur küssen wollte ich ihn nicht noch mal. Dann hüpfte ich nach Hause.
„Mama, Mama, Opa hat mich zum Kirschen essen eingeladen!“, rief ich und ließ den Ranzen fallen. Mama bückte sich, hängte meine Jacke an den Haken, fädelte meinen Schnürsenkel wieder ein, dann sah sie mich an, als hätte ich in einer Sprache mit ihr gesprochen, von der sie nur die einzelnen Wörter verstand, nicht aber den ganzen Sinn. Sie fragte nach dem Namen und wo denn dieser Opa wohnt. Ich erzählte ihr von dem schuhkartonigen Auto, davon dass der Mann auch Martin und Eva gefragt hatte, ob sie Kirschen wollten, aber die hatten wohl keine Lust. Vielleicht waren sie noch sauer wegen der Schokolade oder dem Plastikkram. Mein Bruder sah mich kopfschüttelnd an und ließ mich zur kleinsten und dümmsten Kreatur in der ganzen Straße schrumpfen. „DASWARNICHTUNSEROPA!“, sagte er und spuckte die Worte aus, als habe er den Mund voll ranziger Haselnüsse. Mama atmete durch, legte ihre Hand auf meine Schulter und sagte: „Die Kirschen in unserem Garten sind viel, viel leckerer!“ Und dann haben wir eine Leiter geholt und so viele Kirschen gegessen, bis wir Bauchweh hatten.