Der wiedergefundene Freund

Ich manövriere die Familienkarre in die letzte Parklücke, schäle mich nach langer Fahrt aus der Jogginghose, schlüpfe in das schwarze Kostüm und steige aus. Vor der Trauerhalle stehen Menschen, einzeln und in Grüppchen. Schwarz gekleidet. Und moosgrün. Ich schaue mich um, suche nach bekannten Gesichtern, nach denen, die  versprochen hatten zu kommen. Haben uns seit Jahrzehnten nicht gesehen. Lange. Zu lange. Mehr als ewig. Werden wir uns erkennen? Ich stecke mir ein zweites Taschentuch in die Hosentasche. Wer weiß.

 

 

 

 

 

 

Am wippenden Gang erkenne ich den einen, einen am bedächtigen Kopfnicken, am widerborstigen Haarwirbel, am Geruch von Waschmittel mit Bergamotte, an der brüchigen Stimme erkenne ich einen. Das Leben verscheucht Vertrautes nicht. Wir kennen uns. Es ist dieses Kennen, das nicht zweifelt, nicht scheut und kneift, es ist dieses Kennen, das einfach da ist, wie der Mittwoch nach dem Dienstag, der Dienstag nach dem Montag. Die Förster tragen Sonntagsstaat. Nehmen ihre Hüte ab, bevor sie die Kapelle betreten. Wir umschlingen einander, weinen uns in die Hemdkragen, küssen Wangen, Stirne, blicken in Augen, in deren Tiefe wir uns nicht fürchten, weil wir darin schon so oft umhergewandelt sind, früher. Nur die Augenumrandungen sind gealtert. Wir teilen den Schmerz unter uns auf, jeder nimmt, soviel er tragen kann, dann gehen wir hinein, nutzen die letzten freien Plätze, verstreut, vereinzelt, vermischt und überspannen die Trauergemeinde mit einer Netz, das alles schützt, was da herausbrechen will. Wir sind gekommen, um alte Freunde durch den Schmerz zu tragen.

 

 

 

 

 

 

„Sitzt du?“, hat mich J am Handy gefragt. Nein, ich stehe am Herd. Koche für meine Kinder. „Es ist was passiert.“ An S hatte ich nicht gedacht. Sie ist doch noch ein Kind. Kleiner als ich. Gewesen. In dem Alter stirbt man nicht...

Hat sich erschossen.

Dienstgewehr.

Im Auto.

Erster Parkplatz außerhalb ihres Reviers.

Ein Fremder sollte sie finden.

Ein Fremder hat sie gefunden.

„Samstag ist die Beisetzung.“

Die Vergangenheit steigt in mir auf, wie die Kohlensäure im Glas, streicht an den Innenwänden meinen Arme entlang, blubbert tief in meinen Gelenken, schießt durch meine Fußgewölbe. Ich breche auf, wie ein Granatapfel und die Erinnerungen triefen  aus mir heraus.

„Ich werde da sein.“

 

Kinder, Kinder, Kinder in jedem Alter, ein paar Jugendliche, Väter, Mütter, manchmal eine Tante oder ein Großvater, jeden Sommer haben wir die Ferien miteinander verbracht. Wir waren die Sommerkinder. Wir hatten unsere eigenen Regeln, bezogen unsere Betten in gemischten Schlafsälen, sangen unter der Dusche, plünderten nachts die Speisekammer, spielten Räuber und Gendarm im Wald und schliefen nur, wenn wir müde waren. Alljährlich prallten hier Erziehungsmodelle aufeinander: autoritär, antiautoritär, verzweifelt, engstirnig, freigeistig, haltlos, zerbarsten aneinander, wie Wellen an einer Felsküste und zerschmolzen in der Sommersonne. Eltern hatten Urlaub zum Stricken, Streiten, Stiefeln. Erziehung hatte Urlaub .Das war unsere Zeit. S war auch ein Sommerkind. Ich erinnere mich, wie wild sie gewesen war mit sieben, mit zehn, mit vierzehn, klug, stark, lustig. Ich wusste nichts von ihrer Winterseite.

 

 

 

 

 

 

Es ist kalt, die Luft trocken wie Papier, der Tag verblasst. Die Baumkronen sind blätterfrei. S ist in ihren Wald zurückgekehrt. Der Himmel reicht bin hinunter auf den Boden, wo Sonnenflecken den Trauergäste den Pfad zurück zu ihren Autos weisen. Ihre müden Schritte schlurfen durch das raschelnde Laub. Eingehakt. Geneigte Köpfe. Leise Worte. Wir Sommerkinder klappen die Mantelkragen hoch, tauschen Blicke. Wir bleiben, bis ihr Bruder die Kohle zu geschippt hat, der Buchensetzling gepflanzt ist, wir singen leise, reden über das Leben. Ein Lächeln, eine Geschichte, ein Lachen. Aus Abschied ist Wiedersehen geworden. Wir bleiben, bis die ersten Sterne durch die kahlen Äste flackern, dann schmeiße ich mein Jackett in den Kofferraum und mache auch die letzte Parklücke wieder frei. Mein Fleckchen Schmerz trage ich seither mit mir wie einen Juwel.