"Jetzt setz dich auf deine vier Buchstaben!", hörte ich meine Mutter wettern, wenn ich beim Essen nicht still sitzen blieb. Diesen Spruch hat sie bereits verwendet, als ich des Schreibens noch nicht mächtig war. Ich wusste genau, dass sie damit nichts Anderes sagen wollte, als "Setz dich jetzt hin, verdammt noch mal!" Und manchmal sagte sie es auch genauso. Trotzdem brachte sie mich mit diesem Buchstaben-Spruch zum Grübeln. Wie sollte ich mich auf meine Buchstaben setzen? Ich konnte sie ja weder entziffern noch schreiben? Waren die Buchstaben, auf die ich mich setzen sollte an meinem Hintern verortet oder auf der Sitzfläche, auf die ich den selbigen platzieren sollte? Und wozu sollte es dienen, auf Buchstaben zu sitzen?
Eines Tages, als ich in der Lage war, meinen Namen annähernd fehlerfrei zu schreiben, fiel mir auf, dass er aus genau vier Buchstaben bestand. Aha! Das konnte kein Zufall sein! Hier musste des Rätsels Lösung verborgen liegen. Während ich mich weiter mit dem Geheimnis rund um meinen Namen und die Buchstaben beschäftigte, beschriftete ich alles mit V, E, R, A. Zettel, Buchseiten, Tischdecken, Möbelstücke und Tapeten, hinter dem Schrank, über dem Bett und an der Wand hinter den Büchern. Überall kritzelte ich meinen Namen hin. Als wir irgendwann umziehen mussten, war ich schnell als die Wandbeschrifterin des ganzen Hauses entlarvt. Nein, aus mir ist keine Graffitikünstlerin geworden und meine Identitätsfragen bewegen sich im normalen Maß: ein bisschen Zweifel, ein bisschen Wahnsinn, ein bisschen Weltschmerz dann und wann.
Tatsächlich war es lange Zeit ruhig geworden in meinem Kopf rund um die Frage mit den vier Buchstaben und ich konnte mich anderen Überlegungen zuwenden. Wieso kann man seine Geschwister vom Alter nie einholen? Warum heißt es Leberkäse, obwohl doch keine Milch drin ist? Warum soll man in der Schule alles dem Lehrer nachmachen, aber in der Kirche dem Pfarrer nicht? Dann, eines Tages, sagte meine Mutter diesen Vier-Buchstaben-Satz, der seinen festen Platz in meinem Logiksystem eingenommen hatte, zu meiner Schwester Eva, ohne dabei die Zahl Vier durch eine Drei zu ersetzen, wie es korrekt gewesen wäre und alles fing von vorne an. Ich protestierte. Von uns Kindern war ich die einzige mit vier Buchstaben!
Genervt wurden Augenpaare zur Decke gerollt und Luftstöße abgelassen, die deutlich sagten: "Wie kann man nur mal wieder so blöd sein? Damit ist doch nicht dein Name, sondern dein Hinterteil gemeint!"
Um mich nicht völlig zum Gespött der Familie zu machen, ließ ich es dabei bewenden, ging mir die Zähne putzen und verschwand mit Taschenlampe, Stift und Notizblock ausgerüstet unter meiner Bettdecke, schrieb und zählte und zählte und schrieb, bis mir ein Licht aufging.
Sie meinte A-S-C-H!