Ich liebte meine Secondhand-Motorradjacke. Sie war mindestens 3 Nummern zu groß, roch nach Leder und Patschuli, wie der Laden, in dem ich für sie mein gesamtes Taschengeld gelassen hatte, und sie war schwarz wie der Dreck unter meinen Fingernägeln. Dieses Stück verruchter Kleidung umgab mich mit einem gewissen Flair, sollte den Eindruck machen, als hätte ich mir das Teil schnell am Morgen in der Wohnung eines ultracoolen Typen geschnappt und übergezogen, um nach einer langen Nacht nicht zu spät zur Schule zu kommen. Nichts deutete daraufhin, dass ich gerade aus meinem Ikea-Kinderzimmerbett gekrabbelt und verpennt und ungefrühstückt auf mein Fahrrad gestiegen war, dachte ich.
Tanja hatte zwar keine Motorradjacke, dafür ein Mofa und ich vermutete, dass sie genau diejenige Typen traf, die ich mir mittels meiner Jacke versuchte anzudichten. Und sie hatte den gleichen Weg wie ich.
Eine unserer gemeinsamen Heimfahrten verlief so:
Tanja passt ihre Mofageschwindigkeit an meine Fahrradgeschwindigkeit an und wir lassen uns nebeneinander den Wind um die Nase wehen, fliegen über Hubbel und umrunden Schlaglöcher. Sie rollt und ich strample. Sie mit Zwei-Takter-Kraft, ich mich Muskelkraft. Und dann plötzlich das! Ein Traktor rollt auf einem Feldweg heran, der nur wenige Meter geradeaus auf unseren Weg einbiegen sollte. Ein rotes Monster, Räder so hoch wie Telefonzellen. Volles Tempo. Die Matschklumpen fliegen aus dem ellbogentiefen Profil seiner gigantischen Reifen in alle Richtungen. Sein Motor röhrt wie ein paarungs-bereites Nashorn. Das schaffen wir nicht, schießt es mir durch den Kopf. Nur noch wenige Meter trennen Traktor, Fahrrad, Mofa. Der Bauer macht keine Anstalten, seine angriffslustige Kreatur zu bremsen. Wir haben keine Wahl: wir werden ins Gras beißen. Also reiß ich den Lenker nach links, Tanja ihren nach rechts und wir sausen in die Felder. Ich lande im Mais. Tanja im Kohl. Der Bauer wippt unbeirrt auf seinem gefederten Traktorsitz davon, ohne sich umzudrehen. Schöne Scheiße! Als ich aufstehe, tut mir der Arm weh, oder der Hals oder ist es ein Wirbel? Tanja wurde vom Kohl sanftmütiger aufgefangen und klopft sich nur ein bisschen Erde von der Jeans. „Lass uns einen Moment schieben!“, schlage ich vor. Mir ist schummerig und milchig und erbreche mich in den Ackerrandstreifen.
So ist es gewesen.
Oder so ähnlich.
Oder vielleicht auch ein bisschen anders.
Man nehme: zwei Mädchen, ein Fahrrad, ein Mofa, ein Feldweg. Kein Traktor weit und breit. Erst will ich nicht, weil ich Schiss habe, aber Tanja ist der Meinung, dass es doch viel schneller geht und außerdem Spaß macht. Also halte ich mich mit meiner rechten Hand an ihrer Schulter fest. Sie gibt Gas. Wir fliegen über Hubbel und umrunden Schlaglöcher. Sie rollt und ich werde gerollt. Der Wind zerwühlt mein Haar. So düsen wir den Feldweg entlang, lachen und schreien so laut bis es im Hals weh tut. Was für ein Spaß!Plötzlich ein Widerstand. Unsere Lenker verhaken sich. Ich lasse Tanjas Schulter los, greife den Lenker mit beiden Händen. Aber die Fahrzeuge krallen sich aneinander. Bei voller Fahrt. Mein Fahrrad driftet nach rechts und schlägt dann kraftvoll in die Gegenrichtung aus, wie ein aufgeschreckter
Gaul und wirft mich in hohem Bogen Richtung Feldweg ab. Kein Mais weit und
breit. Kein Kohl. Nur Asphalt mit Rollsplitt. Ich strecke die Arme aus, um den näher kommenden Weg von meinem Gesicht fern zu halten. Ich hätte es wissen müssen! Ich hätte wissen müssen, dass es eine blöde Idee ist, sich von einem Mofa ziehen zu lassen. Ich hätte wissen müssen, dass es dämlich ist, die Arme beim Sturz auszustrecken, rattert es im Flug durch meine Gedanken. Knack!
Das Röntgenbild bestätigt: Schlüsselbein gebrochen. Und das zwei Wochen vor der Klassenfahrt!
„So ein Hornochse, dieser Bauer", findet meine Mutter.
„Dein Glück, dass du die dicke Jacke anhattest!“, findet der Arzt.
Die nächsten zwei Wochen fuhr ich wieder mit dem Schulbus, eingepackt in meine Patschuli-Lederpanzer, der meine Schulter vor schmerzhaften Zusammenstößen mit raufenden Kindern schützte. Und weil sie 3 Nummern zu groß war, passten wir auch noch mit Rucksackverband zusammen, meine wilde Jacke und ich.