Zehn Jahre war ich alt, auf dem Kopf den familientypischen Topfschnitt in Form eines Motorradhelms, Pulli, Hose, Schuhe in dezenten Erdtönen. Ich war weit entfernt von Eitelkeit, noch weiter entfernt davon, einer Geige Musik zu entlocken. Seinerzeit wurde ich durch mein Leben getrieben, wie eine Gummiente auf dem Ozean, willenlos und ausgeliefert. Meine Eltern hielten das für den richtigen Zeitpunkt, um mich an einer Musikfreizeit anzumelden. Ich ahnte nicht, dass ich gegen mein Schicksal Widerspruch hätte einlegen können. Also fuhr meine Mutter mit mir nach Freiburg und gab mich an der Jugendherberge ab. Da stand ich nun, glotzte durch die dicken Gläser meiner großen Brille, Reisetasche und Geigenkoffer fest umklammert und wartete darauf, dass was mit mir passierte. Seit Jahren schwärmten meine Geschwister von diesen Freizeiten, von denen sie voller Erlebnisse zurückkamen. Osterferien ohne Musikfreizeit? Für die beiden undenkbar. Und jetzt sollte auch ich diese tolle Erfahrung machen. Aber es wurde fürchterlich! Ich war überfordert: musikalisch und menschlich. Ich wusste nicht, was ich mit den ganzen Vorzeichen auf meinem Notenblatt anstellen sollte, konnte die kreisenden Armbewegungen des Dirigenten nicht deuten, kämpfte mit Bogen und Kinnstütze. Nie und nimmer hätte ich jemanden gefragt: „Hallo, wie heißt du? Ich heiße Vera. Ist da neben dir noch frei?“ Und offensichtlich lud mein verstörter Gesichtsausdruck auch niemanden dazu ein, mich anzusprechen. Ich saß am letzten Pult der dritten Geige und eilte verzweifelt den Notenköpfen hinterher. In den Pausen schaute ich beim ausgelassenen Tischtennisrundlauf der anderen Teilnehmerinnen aus sicherer Entfernung zu. Es war nicht so, dass ich nicht gerne mitgespielt hätte, aber ich wusste nicht, wie ich mich sichtbar machen konnte. Dass ich mich nicht früher abholen ließ, lag nur daran, dass ich mich nicht traute zu fragen, wo es ein Telefon gab. Am bunten Abend stellte ich mich tot. Ich hatte mit niemandem etwas vorbereite.
"Mach doch irgendwas!“, sagte einer der Leiter, als das Programm in vollem Gange war. Stocksteif saß ich auf meinem Stuhl und wartete, bis er seinen Versuch, mir gut zuzureden, aufgab. Endlich holte mich meine Mutter ab. „Na, wie war´s?“, fragte sie. „Gut!“, sagte ich, außerstande das Gefühlschaos in meinem System zu interpretieren und war froh, als wir im Bus zum Bahnhof saßen. „Wie hießen denn die Mädchen in deinem Zimmer.“, fragte Mama weiter. Ich hatte keine Ahnung.
Zwei Jahre später startete ich noch mal einen Anlauf. Ich hatte mir einen neuen Haarschnitt erkämpft, meine Kleidung mit Scheren, Nadel, Faden und Farbe der aktuellen Mode angenähert und ich hatte das Kommando über mein Instrument beim Durchkreuzen des Notendschungels übernommen. Von Vorzeichen und komplizierten Läufe ließ ich micht nicht mehr einschüchtern. Ich arbeitete mich vom letzten Pult in der dritten Geige in die vorderen Ränge vor, nicht nur im Orchester. Jetzt gehörte ich richtig dazu, genau wie Nico.
Er war der Mittelpunkt der Freizeit, der Kleinste, so alt wie ich damals in Freiburg, spielte sein Cello extrem lässig, machte einen Witz nach dem anderen, seine Haare standen ihm zu Berge, wie einem Troll und sein dicker Zeh lugte aus einem Sockenloch hervor. Eigentlich hieß er Nikolaus. Dafür dass gerade Ostern war, fanden wir das besonders bemerkenswert. Wir spielten die Kleine Nachtmusik von Mozart. Und da Nico am vierten Tag der Freizeit Geburtstag hatte, stellten wir spontan ein kleines Ensemble zusammen, um ihm ein nächtliches Überraschungsständchen zu spielen. Mit Notenständern, Stühlen und Instrumenten bewaffnet, zogen wir um Mitternacht auf Socken und in Schlafanzügen in das Zimmer, in dem auch Nico schlief, zählten flüsternd einen Takt vor und fiedelten uns durch Mozarts ersten Satz. Nico schlief. Wir geigten uns durch den zweiten Satz. Nico schlief. Den dritten spielten wir lauter. Nico schnarchte und träumte weiter. Den vierten Satz schruppten wir, neben seinem Bett stehend im Fortissimo, direkt in sein Ohr. Ohne Erfolg. Nico hatte sein Geburtstagsständchen verpennt.
Wir räumten klappernd alles wieder zusammen und verzogen uns in unsere Betten. Am nächsten Morgen am Frühstückstisch saß ein
ausgeschlafener Nico, strahlte bis zu den Ohrläppchen zwischen einem Trupp verschlafener Kinder, die zu müde waren, um ihre Brötchen zu halten. Bis zum Ende der Freizeit glaubte Nico uns die
Geschichte von dem nächtlichen Ständchen an seinem Bett nicht. Und damals noch ohne SMartphones gab es keinen Beweis! Aber das machte das ganze Erlebnis erst so richtig lustig. Von nun an konnte
ich mir ein Leben ohne Musikfreizeit nicht mehr vorstellen. Ich war nicht mehr die willenlose Gummiente in der dritten Geige. Jetzt hatte ich mir einen Außenbordmotor zugelegt und konnte
mich hinbewegen, wo immer es mir gefiel.