Außenbordmotor

Auf dem Neckar fahren Schiffe, beladen mit Kies und Sand. Von meinem Zimmerfenster kann ich sie sehen. Die Schiffsmotoren blubbern, wie wenn ich in der Badewanne unter Wasser die Luft aus meinen dicken Backen blase. An den Schiffhecks ragen Stangen schräg in den Himmel, Fahnen flattern daran: Deutschland, Schweiz, Holland, Frankreich. Masten ragen auch aus dem braunen Wasser hervor. Rote und weiße. Sind keine Fahnen mehr dran. Alles

untergegangene Schiffe. Wie viele mögen dabei ertrunken sein? Vielleicht auch die Mutter des merkwürdigen Jungen, der manchmal da ist. Die Mutter meiner Freundin sagt dann, wir sollen mit ihm spielen. Er kommt aus Mannheim, aus dem Schifferheim, sagt sie. Wir fürchten ihn, weil er keine Haare und keine Wimpern hat, immer eine Kappe trägt. Kein Wunder, dass seine Haare nicht nachwachsen mit der Mütze. Kommt ja keine Luft dran. Wir sollen ihn nicht blöd finden, weil er anders ist und er kann ja nichts dafür. Aber er weiß nicht mal, wie man Brennball spielt und Cricket. Darum finden wir ihn doch blöd, sagen es aber keinem. Später erfahren wir, dass er dabei war, wie einer seine Mutter erschossen hat. Da hat er über Nacht alle Haare abgeworfen, wie eine Eidechse ihren Schwanz. Seit wir wissen, dass seine Mutter doch nicht im Neckar mit ihrem Schiff untergegangen ist, lassen wir ihn mitspielen. Monster, Folter und Geheimagenten, das ist es, was er mag. Mit seiner erschossenen Mutter ist er genauso unheimlich wie die Masten im Fluss. An den Tagen, wenn er nicht da ist, machen wir alle Sachen, die nicht gut sind für ihn, wegen seiner Mutter, zum Beispiel Paddeln.

 

Mit einem Blasebalg pumpen wir dann das orangefarbene Schlauchboot auf. Wir wollen Entenküken vor dem Ertrinken retten. Wir tragen das Boot die Straße runter zum Neckar. In der Mitte schleift es auf dem Asphalt, weil es so durchhängt. Wir müssen es bis über den Kopf stemmen, damit die Straße kein Loch reinscheuert. Der Boden unter unseren Füßen ist warm und rau. Der Weg zum Wasser runter ist pieksig, kleine spitze Steinchen. Wir rennen trotzdem. Wir schieben an der Sandbank das Boot so weit ins Wasser, bis unserer Knie nass sind, dann steigen wir ein, meine Freundin und ich und paddeln los, von einem Gebüsch zum nächsten. Die Enten gründeln im Schilf. Aber ohne Küken. Vielleicht ertrinken die Entenküken heute auf der neckarhäuser Seite, überlegen wir. Wir müssen einmal quer über den Fluss, um dorthin zu kommen, zwischen den Schiffen durch.

„Los!“, ruft meine Freundin! „Außenbordmotor!“

Ich hänge mich bis zum Bauchnabel hinten aus dem Boot. Wir passen den besten Moment ab. Dann schaufelt meine Freundin mit aller Kraft die Paddel durch das Wasser und ich sorge mit starkem Beinschlag für Vortrieb. Zwischen zwei Lastkähnen hindurch,rudern wir ans andere Ufer. Der eine Kahn heißt„Elvira“, liegt bis zur Reling im Wasser, hupt zweimal, als wir die Fahrrinne kreuzen. Ich glaube, Elvira geht als nächste unter, weil das Wasser schon über den Rand flutet. Wir lassen uns auf Elviras Wellen ans andere Ufer schaukeln, umkurven die Fahnenmasten. Ich muss an all die Schiffe am Grund unter uns denken und ziehe mich ins Boot zurück. Ich will nicht mit den Füßen an eines dieser untergegangenen Schiffe stoßen. Meine Freundin sagt, die Stangen markieren die Fahrrinne, sind gar keine Schiffe. Ich glaube, dass sie sich täuscht.